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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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bringen, solltest Du nicht allzu sehr verwundert sein, wenn sich diese dann eines Tages als charakterliche Leichtgewichte entpuppen. Wenn Du Deine menschlichen Beziehungen immer nur dem Kriterium der Nützlichkeit unterworfen hast, könnte es sehr einsam werden, wenn Du niemandem mehr nützlich bist.
    In einer anderen Ecke erwartet Dich die Fassungslosigkeit über das Verhalten eines Dir wichtigen Menschen. Das Nicht-vorstellen-Können, dass jemand anderer nicht Deine Vorstellungen teilen konnte, obwohl Du doch ganz sicher warst, ja sogar immer wieder nachgefragt hast. Es gibt kleine Signale, die man wahrnehmen oder ignorieren kann. Wenn einem schon die Existenz solcher Zwischentöne unbekannt ist, wird der Schock umso größer, wenn es auf einmal plötzlich sehr laut und heftig wird. Wer noch nie erlebt hat, dass aus ganz leichtem Regen auf einmal ein Wolkenbruch werden kann, wird auch nicht gelernt haben, sich rechtzeitig darauf vorzubereiten. Der Schock des ersten Wolkenbruchs, das Spüren der Nässe und Kälte am ganzen Körper kann so groß sein, dass man überhaupt Angst davor hat, sich wieder der Natur auszusetzen. Die Differenz zwischen dem, was Du Dir von dem anderen vorstellen konntest, und dem, was dann tatsächlich passiert ist, war so riesig, dass Du heute noch immer fassungslos bist. Für Dich ist das besonders schlimm, weil Du Dir vorher so sicher warst und nicht begriffen hast, dass alles immer nur geborgt ist: finanzieller Erfolg, Glück in der Liebe, Gesundheit, ein attraktives Äußeres oder zumindest Sicherheit. Das Glück ist nicht unendlich strapazierbar. Wenn Du es Dir zu lange leistest, alles auszublenden und alle Signale zu ignorieren, kann aus dem Erstaunen ein Erschrecken werden. Und wenn Du es für Dich nicht einsehen willst: Das Leben bringt es Dir bei.
    Ich schreibe diese Zeilen, ohne zu wissen, ob Du 23, 45 oder 81 Jahre alt bist. Aber was ich zu wissen glaube, ist, dass Du jedenfalls ein bisschen ratlos bist. Kippt das Ganze jetzt am Ende in eine unfreiwillige Psychotherapie um oder was will der Autor von mir? Ein mögliches Unbehagen liegt vielleicht daran, dass Dir das alles viel zu schnell geht, oder aber daran, dass Du jetzt Deine Verteidigungswaffen doch aktivierst. Vielleicht gibt es Waffen, die so gut verborgen sind, dass Du sie schon selbst vergessen hast. Die Fähigkeit, sich immer mit einer charmanten Lüge herausreden zu können, ist so eine Waffe. Sie bringt bei der Begegnung mit Deiner letzten Stunde gar nichts, auch nicht die Waffe des Zynismus, die schneidet dann besonders scharf in die eigene Seele.
    Auf einmal kommt die Müdigkeit. Natürlich werden wir alle im Lauf eines Tages immer müder und können am Ende die Augen oft nur mühsam offen halten. Es gibt aber Menschen, die sich mit Müdigkeit durch ihr ganzes Leben schleppen. Für sie ist es eine Überwindung, sich überhaupt zu bewegen und etwas zu tun. Müdigkeit raubt uns die Fähigkeit, unsere Welt mit den Sinnen wahrzunehmen. Genau diese Wachheit und Aufmerksamkeit ist aber gefordert, wenn wir uns selbst begegnen. Stell Dir vor, Du liegst allein in einem Bett im Dunkeln. Du verweigerst das Aufstehen, wehrst Dich, aus dem Bett zu steigen und ein Licht anzuzünden. Du willst gar nicht sehen, was um Dich ist. Du verweigerst alles. Du kannst so lange liegen bleiben, bis Du verrückt wirst. Es hat aber keinen Sinn, ewig im Dunkeln liegen zu bleiben. Irgendwann dreht jemand das Licht an, dann brauchen Deine Augen einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen.
    Fast jeden Erwachsenen plagen irgendwann einmal kleine Wehwehchen, Rückenschmerzen, Gastritis oder Kopfschmerzen. Wenn Du früher an einem wunderschönen sonnigen Tag aufgewacht bist und gefürchtet hast, dass Dir die Beschwerden den Tag verpatzen könnten, hast Du überlegt: Soll ich ein Medikament nehmen und alles wird nach einer kurzen Zeit, bis es wirkt, gut, oder Du hast Dich entschlossen, das Risiko einzugehen, Deine Beschwerden zu ignorieren und zu hoffen, dass sie auszuhalten sein werden. Das war meist keine große Entscheidung. Wenn Du etwas Wichtiges vorhattest, fit sein musstest, hast Du wahrscheinlich eher zum Pulver gegriffen, als wenn Du einen lockeren Tag vor Dir hattest. Vielleicht hast Du auch überhaupt Medikamente gänzlich abgelehnt. In der letzten Stunde kann die gleiche Frage von entscheidender Bedeutung sein. Tauschst Du größere körperliche Schmerzen gegen ein hohes Maß an geistiger Klarheit oder betäubst Du den Körper und damit auch den
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