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Meine letzte Stunde

Meine letzte Stunde

Titel: Meine letzte Stunde
Autoren: Andreas Salcher
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Geist? Was hat die höhere Qualität? Das ist gar nicht einfach, weil schon beim Nachdenken über den Verzicht auf Medikamente die Schmerzen zunächst einmal stärker werden, der eigene Wille gefordert wird. Wenn Du zulässt, dass Dein Verstand klar bleibt, drängen Dich sehr schwierige Fragen: Wie viele Tage habe ich noch? Wie lange kann ich noch feste Nahrung zu mir nehmen? Wie lebenswert ist es für mich, wenn ich nur mehr ganz wenig Pudding durch einen kleinen Schnabelbecher in unendlicher Langsamkeit zu mir nehmen kann, wo mir Essen doch immer so viel Freude gemacht hat?
    Furchtbar das Ganze, wer will das schon wissen? Wenn Du jetzt spürst, dass das, was Du da liest, irrelevant für Dich ist, weil das bei Dir definitiv ganz anders sein wird, hast Du natürlich recht. Das gilt vor allem dann, wenn das alles kein Problem für Dich ist, weil es für Dich absolut nicht zutrifft, nichts davon. Vielleicht gehörst Du auch zu jenen, die in bestimmten Filmen oder Theaterstücken immer schon sehr bald gehen, weil sie sich nicht betroffen fühlen, das alles als ungeheuer langweilig und als Gefühlsduselei empfinden. Der folgende Satz ist nicht zynisch gemeint und gilt nur für jene, die dazu stehen, genau so zu sein: Es gibt die Experten ihres eigenen Lebens, die ganz genau wissen, worum es in ihrem Leben geht. Meist sind sie hoch intelligent und sehr erfolgreich bei dem, was sie tun. Und das wollen sie dann maximieren. Das kann Geld sein, das kann Einfluss sein, das kann die eigene Bedeutung sein. Es kann sogar etwas völlig Harmloses sein, wie die Freude am eigenen Leben zu maximieren, also „Carpe diem“ für sich mit „Maximiere jeden Tag Deine Lust“ zu übersetzen. Nur, das Leben auf die Freude im Leben zu reduzieren, ist wie einen ganzen Sommer nie zu schlafen im Skandinavien der Mitternachtssonne.
    Du kannst auch alles ablehnen, was hier steht und Dein gesamtes Talent nur zur Maximierung von irgendetwas einsetzen, aber Du kannst zumindest nicht ausschließen, dass Du eines Tages in den Spiegel schaust und Dich fragst: „Wofür habe ich mein Talent genutzt?“ Da könnte der Spiegel sich dann ganz schnell beschlagen.
    Es ist völlig in Ordnung, wenn das Dein Leben ist und Du Dich dabei gut fühlst. Es ist manchmal auch schon genug, etwas bei sich wiederzuerkennen. Falls Du irgendeinem Thema dieses Buches doch einmal begegnen solltest, könnte es Dir passieren, dass Du etwas erleben wirst: Das „Sich-selbst-erkennen-Lächeln“. Das ist ein schöner Augenblick, manchmal wird dann sogar ein herzhaftes „Über-sich-selbst-lachen-Können“ daraus. Das hat etwas wunderbar Befreiendes.
    Auch wenn Du im Leben bisher immer das Glück gehabt hast, mit einem o. B. – Du erinnerst Dich, ohne Befund, also alles in Ordnung und so weiterleben wie bisher – durchzukommen, versuche gar nicht erst, Dir ein o. B. für Deine letzte Stunde auszustellen. Du wirst dort jemandem begegnen, der es Dir nicht so leicht machen wird. Verstecken funktioniert sicher nicht in der letzten Stunde, weil sie einen immer findet. Was Furcht bei anderen auslösen könnte, hast Du bei dieser kurzen Wanderung durch den Raum der letzten Stunde sehen können. Das war natürlich nicht Dein Raum, aber vielleicht hat Dir der Besuch einer Ecke zumindest eine Ahnung davon verschafft, wo der Schlüssel zu Deinem Raum liegen könnte. Vielleicht hast Du aber auch gar nichts gesehen, weil Du mit meiner Art nicht zurechtgekommen bist. Es gibt kein passendes Vorbereitungsprogramm für Deine letzte Stunde, aber ich möchte Dir noch einen Hinweis geben:
    Auch wenn man dem Tod ein Leben lang geschickt ausweichen kann, Begräbnissen entkommt man nicht. Wenn Du das nächste Mal Gelegenheit hast, die Zeit unmittelbar nach dem Begräbnis eines anderen zu erleben, betrachte Deinen eigenen Schmerz, die Trauer der Angehörigen, die Geschichten, die über den Verstorbenen erzählt werden, einen Augenblick lang aus einer anderen Perspektive: Hat es diesen Menschen tatsächlich so gegeben?
    Wie beschämend ist es, wenn Hinterbliebene sagen: „Wir haben ihn ja so gern gehabt“, aber außerstande sind, auch nur einen klaren Gedanken zu dieser Person in Worte zu fassen. Die Differenz zwischen dem Bild, das nach dem Tod eines Menschen darzustellen versucht wird, und seiner tatsächlichen Persönlichkeit kann beträchtlich sein. Es ist schade, Menschen zu begraben, ohne sie wirklich gekannt zu haben. Aber ist es nicht auch eine Bringschuld, zu unseren Lebzeiten so viel von
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