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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition
Autoren: M Twain
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wutentbrannt zu meiner Mutter und sagte, Sandy habe eine geschlagene Stunde ohne Unterbrechung gesungen, ich könne es nicht länger aushalten und sie möge ihn
bitte
zum Schweigen bringen. Da traten ihr Tränen in die Augen, ihre Lippe zitterte, und sie sagte etwa Folgendes:
    »Der arme Kerl, wenn er singt, heißt das, dass er sich nicht erinnert, und das tröstet mich; aber wenn er schweigt, fürchte ich, dass er nachdenkt, und das kann ich nicht ertragen. Er wird seine Mutter niemals wiedersehen; wenn er singt, darf ich ihn nicht daran hindern, sondern muss dankbar dafür sein. Wenn du älter wärst, würdest du mich verstehen; dann würde dich der Lärm eines Kindes ohne Freunde froh stimmen.«
    Es war eine schlichte Rede, und sie bestand nur aus kleinen Worten, aber sie traf den Kern, und Sandys Lärm beunruhigte mich nicht mehr. Meine Mutter machte nie große Worte, hatte aber eine natürliche Begabung, mit kleinen Worten große Wirkung zu erzielen. Sie ist fast neunzig Jahre alt geworden und besaß bis zuletzt eine schlagfertige Zunge – besonders wenn eine Gemeinheit oder Ungerechtigkeit ihren Zorn erregte. Mehrere Male kam sie mir in meinen Büchern zugute, wo sie als Tom Sawyers »Tante Polly« auftaucht. Ich stattete sie mit einem Dialekt aus und versuchte, mir noch andere Verbesserungen für sie einfallen zu lassen, konnte aber keine finden. Auch Sandy habe ich einmal verwendet, und zwar in
Tom Sawyer
. Ich wollte, dass er darin einen Zaun streicht, aber es gelang mir nicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich ihn in dem Buch genannt habe.
    Ich sehe die Farm noch vollkommen klar vor mir. Alle Habseligkeiten, alle Einzelheiten sehe ich: das Familienzimmer im Haus, mit einem Ausziehbett in der einen Ecke und einem Spinnrad in der anderen – einem Rad, dessen schon von weitem zu hörendes an- und abschwellendes Klagen für mich das schwermütigste aller Geräusche war, mich heimwehkrank und trübsinnig machte und meine Umgebung mit den wandelnden Geistern der Toten erfüllte;den riesigen Kamin, der in Winternächten mit lodernden Hickoryscheiten vollgeschichtet war, aus denen ein zuckriger Saft austrat, der nicht umkam, weil wir ihn abkratzten und vertilgten; die träge Katze, die auf der unebenen Kaminplatte ausgestreckt dalag; die schläfrigen Hunde, die sich blinzelnd an die Türpfosten drückten; meine Tante, strickend in der einen Kaminecke, mein Onkel, seine Maiskolbenpfeife rauchend, in der anderen; den teppichlosen polierten Eichenholzfußboden, der die tanzenden Flammenzungen reflektierte und dort, wo heiße Kohlefunken gelandet und eines gemächlichen Todes gestorben waren, von schwarzen Markierungen getüpfelt war; ein halbes Dutzend Kinder, die weiter hinten im Dämmerlicht umhertobten; hier und da Stühle mit holzgeflochtenem Sitz, einige davon Schaukelstühle; eine Wiege außer Dienst, aber vertrauensvoll wartend; in den kalten frühen Morgenstunden aneinandergeschmiegte Kinder in Hemdchen und Leibchen, die die Kaminplatte belagerten und Zeit schindeten – sie brachten es nicht über sich, ihr gemütliches Plätzchen zu verlassen, auf den windgepeitschten Gang zwischen Haus und Küche hinauszugehen, wo das Zinnwaschbecken für alle bereitstand.
    Vor dem vorderen Zaun verlief die Landstraße, im Sommer staubig und ein geeigneter Ort für Schlangen – dort lagen sie gern und sonnten sich. Wenn es Klapperschlangen oder Puffottern waren, töteten wir sie; wenn es Schwarze Ratten- oder Schlanknattern waren oder wenn sie zur legendären Schlammnatternart gehörten, flüchteten wir ohne Scham; wenn es »Hausschlangen« oder »Strumpfbandnattern« waren, trugen wir sie nach Hause und legten sie als Überraschung in Tante Patsys Nähkorb, denn sie war voreingenommen gegenüber Schlangen, und immer wenn sie den Korb auf den Schoß nahm und welche herauszukriechen begannen, verlor sie fast den Verstand. Sie schien sich nie an sie gewöhnen zu können, obwohl sich ihr zahlreiche Gelegenheiten boten. Auch für Fledermäuse war sie nicht zu erwärmen und konnte sie einfach nicht ertragen; dabei halte ich Fledermäuse für durchaus freundliche Vögel. Meine Mutter, Tante Patsys Schwester, war demselben wilden Aberglauben verfallen. Eine Fledermaus ist wunderbar weich und seidig; ich kenne kein Geschöpf, das sich angenehmer anfühlt oder dankbarer wäre für Liebkosungen, wenn man sie nur im richtigen Geistanbietet. Ich weiß alles über diese Coleoptera, weil unsere große Höhle drei Meilen
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