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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition
Autoren: M Twain
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unterhalb von Hannibal von ihnen zahlreich bevölkert war, und oft brachte ich welche mit nach Hause, um meiner Mutter eine Freude zu machen. An Schultagen hatte ich leichtes Spiel, denn dann war ich ja in der Schule gewesen und konnte keine Fledermäuse herbeigeschafft haben. Sie war keine misstrauische Person, sondern voller Vertrauen und Zuversicht; und wenn ich sagte: »In meiner Manteltasche hab ich was für dich«, steckte sie die Hand hinein. Aber sie zog sie immer von selbst wieder heraus; ich brauchte sie nicht erst zu bitten. Es war bemerkenswert, wie hartnäckig sie sich weigerte, unsere Fledermäuse zu mögen. Je mehr Erfahrungen sie mit ihnen machte, desto weniger vermochte sie ihre Einstellung zu ändern.
    Ich glaube, sie war kein einziges Mal in ihrem Leben in der Höhle, während alle anderen hingingen. Viele Ausflügler kamen aus beträchtlicher Entfernung stromab- und stromaufwärts, um die Höhle zu besuchen. Sie erstreckte sich über mehrere Meilen und stellte eine verworrene Wildnis aus tiefen Klüften und schmalen Gängen dar. Man konnte sich leicht verirren, jeder – einschließlich der Fledermäuse. Auch ich habe mich darin verirrt zusammen mit einer Dame, und unsere letzte Kerze war schon fast heruntergebrannt, bevor wir in der Ferne die umhertanzenden Lichter der Suchmannschaft erblickten.
    Einmal hatte sich der Mischling »Indianer Joe« darin verirrt und wäre verhungert, wenn der Vorrat an Fledermäusen ausgegangen wäre. Aber das war so gut wie unmöglich; es gab eine Unmenge von ihnen. Er hat mir die Geschichte erzählt. In dem Buch
Tom Sawyer
habe ich ihn schließlich verhungern lassen, doch das geschah im Interesse der Kunst; in Wirklichkeit kam es nicht so weit. »General« Gaines, unser erster Stadtsäufer, bevor Jimmy Finn seinen Platz einnahm, war eine Woche lang darin verlorengegangen und steckte am Ende sein Taschentuch durch das Loch einer Hügelspitze bei Saverton, mehrere Meilen stromabwärts vom Eingang der Höhle, und jemand sah es und grub ihn aus. Die Geschichte stimmt bis auf das Detail mit dem Taschentuch. Ich kannte ihn jahrelang, und er besaß gar keins. Aber vielleicht war’s ja auch seine Nase. Die hätte Aufmerksamkeit erregt.
    Die Höhle war ein gespenstischer Ort, denn sie barg einen Leichnam –den Leichnam eines jungen Mädchens von vierzehn Jahren. Er befand sich in einem gläsernen Zylinder, umhüllt von einem kupfernen, und hing von einer Halterung herab, die einen schmalen Gang überspannte. Der Körper war in Alkohol eingelegt, und es hieß, dass Nichtsnutze und Raufbolde ihn an den Haaren heraufzogen, um in das tote Gesicht zu blicken. Das Mädchen war die Tochter eines Chirurgen von außerordentlichen Fähigkeiten und hohem Ansehen aus St. Louis, eines Exzentrikers, der viele seltsame Dinge vollführte. Er selbst hatte das arme Mädchen an diesen verlassenen Ort gebracht.
    Er war nicht nur Chirurg, sondern auch praktischer Arzt, und in Fällen, wo Arzneien allein nicht halfen, entwickelte er andere Heilmethoden. Einmal entzweite er sich mit einer Familie, deren Hausarzt er war, und danach zog sie ihn nicht mehr zu Rate. Aber es kam eine Zeit, da er noch einmal gerufen wurde. Die Dame des Hauses war schwer krank und von ihren Ärzten bereits aufgegeben worden. Er trat ins Zimmer, blieb reglos stehen und besah sich die Szenerie. Er hatte seinen großen Schlapphut auf und einen Viertelmorgen Ingwerkuchen unter dem Arm, und während er sich gedankenvoll umschaute, brach er große Stücke von seinem Kuchen ab, mampfte vor sich hin und ließ die Krümel auf seine Brust und zu Boden rieseln. Die Frau lag blass und bewegungslos mit geschlossenen Augen da; um das Bett war die Familie gruppiert und schluchzte leise in der feierlichen Stille, einige stehend, andere kniend. Bald nahm der Arzt die Medizinfläschchen zur Hand, beschnüffelte sie verächtlich und schleuderte sie zum offenen Fenster hinaus. Als alle entsorgt waren, trat er ans Bett, legte der sterbenden Frau seinen Ingwerkuchen auf die Brust und sagte barsch:
    »Was schluchzt ihr Idioten? Der Schwindlerin fehlt nichts. Strecken Sie die Zunge heraus!«
    Das Schluchzen verstummte, die verärgerte Trauerversammlung änderte ihr Verhalten und begann den Arzt für sein grausames Betragen in dieser Kammer des Todes zu rügen, doch mit einer Explosion lästerlicher Beschimpfungen unterbrach er sie und sagte:
    »Eine Meute schniefender Hornochsen, glaubt ihr, ihr könnt mich mein Handwerk lehren? Ich sage
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