Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Tag ist deine Nacht

Mein Tag ist deine Nacht

Titel: Mein Tag ist deine Nacht
Autoren: Melanie Rose
Vom Netzwerk:
hatte, dass sie der Blitz schlimmer getroffen hatte – scheinbar so schlimm, dass ihr Herz ganz zu schlagen aufgehört hatte.
    In Gedanken noch immer halb mit Lauren und dem Traum beschäftigt, beobachtete ich, wie der Chefarzt, ein kahlköpfiger Mann in einem schicken Nadelstreifenanzug, der unter dem weißen Laborkittel zu sehen war, entlang seiner schnabelartigen Nase zu mir herunterblickte, als würde er ein Stück Fleisch für seinen Sonntagsbraten begutachten.
    Ich versuchte, das Bild des Bussards, das vor meinem inneren Auge aufstieg, zu verdrängen, und zog mir schützend die Bettdecke über die Brust. Der Bussard sprach mit reichlich gelangweilter Stimme, die das Interesse in seinen Augen Lügen strafte.
    »So, und was haben wir hier?«
    Dr.Chin wurde lebendig, nahm meinen Krankenbericht und las in abgehacktem Ton: »Das ist Miss Taylor. Achtundzwanzig Jahre alt. Sie wurde gestern mit geringfügigen Verbrennungen links an Rücken und Schulter eingeliefert, nachdem sie von einem Blitz getroffen worden war.«
    »Ah, die Blitzfrau, ja? Der Mantel war die Rettung. Gerade noch mal die Kurve gekratzt, Miss Taylor, wenn ich das so sagen darf.« Der Chefarzt grinste süffisant und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem nervösen Assistenzarzt zu. »Haben sich Probleme ergeben?«
    »Miss Taylor war bei ihrer Ankunft bewusstlos. Beobachtungen, die alle zwei Stunden durchgeführt wurden, zeigten nichts Auffälliges. Als sie wieder zu Bewusstsein kam, wirkte sie desorientiert, ist inzwischen aber wieder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.«
    »Bereit für die Heimkehr, Miss Taylor?«
    Ich nickte.
    »Gut, gut, ich denke, wir können Sie heute entlassen.«
    Er eilte zum Bett auf der gegenüberliegenden Zimmerseite. Ich schaute zu, wie er verachtungsvoll auf die nächste unglückliche, in Laken gehüllte Patientin blickte. »Und was haben wir hier?«, psalmodierte er kühl von der anderen Raumseite.
    Ein Tumult am Eingang des Raums lenkte meine Aufmerksamkeit von den Ärzten ab. Der Pfleger, der zuvor so freundlich zu mir gewesen war, unterhielt sich mit einem Besucher, der hinter einem riesigen Blumenstrauß kaum zu sehen war.
    »Sie müssen das Ende der Visite abwarten«, erklärte der Pfleger im Flüsterton. »Sie können so lange im Besuchszimmer warten. Zu wem wollten Sie denn?«
    Der Mann senkte die Blumen ein kleines Stück, und mein ganzer Körper spannte sich vor Erregung und Besorgnis an, als ich in ihm den Fremden vom Vortag erkannte.
    Am liebsten wäre ich nach unten gerutscht und hätte mir die Bettdecke über den Kopf gezogen, aber ich schien wie erstarrt. Der Mann spähte suchend in den Raum, bis sein Blick schließlich an meinem Gesicht hängenblieb.
    Er sah anders aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, sein kurzes Haar umrahmte ein kantiges, maskulines Gesicht. Er trug beigefarbene Cargohosen und ein Polohemd mit offenem Kragen, das er lose bis zu einer schmalen Taille trug.
    Gott sei Dank war ich nicht wie in dem Traum mit einem Herzmonitor verbunden, dachte ich mir angesichts meines Herzklopfens. Es hätte die Skala gesprengt!
    Er winkte mir über die Blumen hinweg zu und folgte dann dem Pfleger auf den Gang, um zu warten, bis der Bussard seine Runde beendet hatte. Sobald er außer Sichtweite war, setzte ich mich mit einem Ruck auf und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, um es ein wenig zu entwirren. Eilig durchstöberte ich den Nachtschrank, doch diesmal fand sich darin keine Haarbürste griffbereit, ob nun meine oder nicht. Ich konnte es nicht fassen. Hier war ich, ohne eine Haarbürste oder einen Lippenstift, und dabei kam mich der bestaussehende Mann, der mir seit Jahren begegnet war, jeden Augenblick besuchen!
    Als der Chefarzt und seine Entourage schließlich das Zimmer verließen, befand ich mich in heller Aufregung. Was sollte ich diesem Mann sagen, von dem ich nicht einmal den Namen kannte? Wir waren uns während des heftigen Gewitters so kurz und doch so intensiv begegnet. Was musste er von mir denken, mir, verdreckt, pitschnass und so doof, sich fünf Minuten nach unserer ersten Begegnung vom Blitz treffen zu lassen?
    Bei dem Gedanken errötete ich erneut, stöhnte auf und vergrub mein Gesicht vor Verlegenheit in den Händen.
    »Hi.«
    Ich ließ die Hände sinken und blickte auf. Er stand da und lächelte mich an, als würde er meine Gedanken genau kennen.
    Gelassen überreichte er mir die Blumen, zog sich einen roten Plastikstuhl herbei und setzte sich neben das Bett.
    »Wie geht’s
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher