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Mein schwules Auge

Mein schwules Auge

Titel: Mein schwules Auge
Autoren: Rinaldo Hopf u.a.
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wurde – und dadurch zunehmend unbrauchbarer für meine Zwecke.
    Also beschloss ich zu retten, was zu retten war.
    Ich riss mein Lieblingsfoto aus dem Heft, überzeugt, zumindest dieses eine Foto vor den Kräften der Natur zu bewahren. Das Foto hatte ich mir inzwischen so häufig angeschaut, dass ich nur die
    Augen zuzumachen brauchte, und schon flammten die Eindrücke auf meiner Netzhaut auf: ein kräftiger, dunkelhaariger Mann um die dreißig, der entweder kurz davor war, eine ziemlich schmächtige blonde Frau zu penetrieren, oder vielleicht den Liebesakt gerade unterbrach, weil er es sich anders überlegt hatte. Beim Foto gab es auch eine ziemlich lange Bildunterschrift. Allerdings kann ich mich beim besten Willen nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern. Nur dass das männliche Model „Robert“ hieß und das weibliche „Janine“. Jedenfalls riss ich das Foto aus der inzwischen durchweichten Publikation heraus und beschloss, es bei mir zu Hause zu verstecken.
    Doch das war natürlich leichter gesagt als getan. Egal, wo ich das Heiligenbild versteckte, ich war überzeugt, jemand aus der Familie würde es bestimmt entdecken. Mein Vater schaute im Keller doch regelmäßig unter den Heizkessel, oder? Meine Mutter räumt die Schuhe in meinem Schrank bestimmt mindestens einmal die Woche um und würde ganz bestimmt in die Indianer-Mokassins schauen, die ich ein einziges Mal als Pfadfinder für einen Sommercamp-Sketch anziehen musste. Mein älterer Bruder hielt sich doch häufig auf dem Dachboden auf – weiß Gott, warum –‚ aber selbst er würde bestimmt unter meinem Vulkanmodel aus Gips und Metalldraht für das Jugend-forscht-Projekt der fünften Klasse nachschauen. Und mein kleiner Bruder, ja, der kannte sowieso alle meine Geheimnisse: Wo ich zum Beispiel jedes Jahr meine Halloween-Süßigkeiten sorgfältig aufbewahrte, von denen ich täglich genau drei Bonbons aß, damit mein Vorrat bis Ostern reichte. Ja, vor ihm musste ich sowieso besonders auf der Hut sein.
    Also versteckte ich meinen Schatz an einem sicheren Ort, an einem Ort, auf den niemand im Leben käme: In einem seltenen Geniestreich verbarg ich mein kostbares Kleinod einfach unter meiner Matratze. Nach einer Woche begann ich mir jedoch auch um dieses Versteck Sorgen zu machen. Zugegeben, ich musste mein Bett jeden Morgen vor dem Frühstück selber machen, dennoch plagte mich dabei ein ungutes Gefühl. Also beschloss ich in einem Anfall ungeahnter Logik, das Foto von Robert und Janine zu verkleinern, denn so, schlussfolgerte ich, könnte ich es ja noch besser verstecken. In der ersten Woche verschwand die rechte untere Ecke mit der Bildunterschrift. Ein kleiner Schnitt mit meiner Kinderschere und ich hatte die wahre Identität von „Robert“ und „Janine“ getilgt und sie für die Nachwelt anonym gemacht. Sicher waren das angehende Schauspieler oder sogar ein echtes Ehepaar.
    In der zweiten Woche verabschiedete ich mich von etwa eineinhalb Zentimeter des oberen Randes. An und für sich nicht weiter tragisch, handelte es sich sowieso nur um die Decke des Zimmers, vermutlich ein Motel oder eine Ferienwohnung, in der die beiden gerade die Flitterwochen verbrachten, als sie vom Fotografen sowie seinem Assistenten überrascht wurden, dessen linkes Bein ich nach einigen Tagen sorgfältigen Studierens hinten in der Ecke ausmachen konnte.
    Nach kurzer Zeit verschwand immer mehr von dem Bild: die Wand hinter dem Bett, auf dem die beiden ansonsten sich liebten, die Lampe auf dem Nachttisch, die Badezimmertür, durch die man
    komischerweise einen Blick auf eine Duschkabine ohne Duschvorhang erheischen konnte. Bis ich plötzlich feststellte, dass sogar „Janine“ völlig aus dem Bild verschwunden war. Geblieben war mir lediglich „Robert“.
    Über die nächsten Tage und Wochen vergewisserte ich mich des Verbleibs des Fotos mehrmals täglich, und obwohl ich das Bildformat auf schätzungsweise circa zwanzig Prozent der Originalgröße reduziert hatte, plagte mich dennoch die Angst, „Robert“ könnte den Falschen in die Hände fallen. Also beschloss ich, mich auch von Teilen dieses magisch wirkenden Mannes zu trennen, obwohl ich beim näheren Hinsehen zugeben musste, dass „Robert“ verblüffende Ähnlichkeiten mit unserem Milchmann, Mr. Coble, aufwies. Zuerst schnitt ich mit meiner kindersicheren Papierschere dem armen Halbgott Füße und Waden ab. Die Unterarme waren ja auch nicht so wichtig, beschloss ich nach weiteren fünf Tagen des
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