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Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall

Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall

Titel: Das Verbrechen: Kommissarin Lunds 1. Fall
Autoren: David Hewson , Soren Sveistrup
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Erstes Kapitel
FREITAG, 31. OKTOBER
    Durch den dunklen Wald, dessen kahle Bäume keinen Schutz bieten, rennt Nanna Birk Larsen. Neunzehn, atemlos, zitternd in ihrem kurzen, zerrissenen Hemd, barfuß, in dem zähen Matsch strauchelnd. Harte Wurzeln haken sich um ihre Knöchel, dichtes Gestrüpp zerkratzt ihre wild rudernden weißen Arme. Sie stürzt, fängt sich wieder, kämpft sich aus stinkenden Tümpeln hoch, versucht das Zähneklappern zu stoppen, versucht zu denken, zu hoffen, sich zu verstecken.
    Ein gleißendes Auge verfolgt sie, wie ein Jäger das angeschossene Wild. Im Zickzack, langsam näher rückend, bewegt es sich durch den Pinseskoven, den Pfingstwald. Kahle silberne Stämme ragen aus dem kargen Boden wie Gliedmaßen uralter, versteinerter Leichen. Wieder ein Sturz, der schlimmste. Der Boden unter ihr verschwindet und mit ihm ihre Beine. Um sich schlagend, aufschreiend vor Schmerz und Verzweiflung, stürzt das Mädchen in den sumpfigen, eiskalten Graben, prallt gegen Steine und Holz, paddelt durch scharfkantigen Schotter, spürt, wie ihr Kopf und ihre Hände, ihre Ellbogen, ihre Knie über den harten Untergrund schrammen.
    Das kalte Wasser, die Angst, und er, nicht mehr weit …
    Sie kämpft sich aus dem Schlamm hoch, keuchend, klettert die Böschung hinauf, stemmt ihre aufgerissenen, blutenden Füße in den Morast, spreizt die Zehen, um darin Halt zu finden. Oben ein Baum. Dürre Blätter streifen ihr Gesicht. Der Stamm ist dicker als die anderen, sie wirft die Arme um ihn und denkt an ihren Vater Theis, einen Schrank von einem Mann, schweigsam, brummig, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Welt draußen. Sie klammert sich an den Baum, wie sie sich früher an ihren Vater geklammert hat. Seine Stärke bei ihr, ihre bei ihm. Nichts sonst brauchte sie, würde sie je brauchen.
    Vom unendlichen Himmel kommt ein dumpfes Heulen. Die strahlenden, alles sehenden Lichter eines Flugzeugs fliehen die Grenzen der Schwerkraft, fliehen Kastrup, fliehen Dänemark. Der flüchtige Schein verwirrt und blendet. In dem unerbittlichen Gleißen tasten Nannas Finger über ihr Gesicht. Fühlen die Wunde, die vom linken Auge zur Wange läuft, bösartig, offen, blutend.
    Sie riecht ihn, spürt ihn. An ihr. In ihr.
    Durch all die Schmerzen, inmitten der Angst, schießt eine heiße Flamme der Wut empor.
    Du bist Theis Birk Larsens Tochter.
    Alle sagten das, wenn sie ihnen Grund dazu gab.
    Du bist Nanna Birk Larsen, Theis’ Kind und Pernilles Kind, du wirst dem Ungeheuer entkommen, das in der Nacht durch den Pfingstwald jagt, draußen am Rand der Stadt, in der es, nur wenige Kilometer und doch so weit entfernt, jenen warmen sicheren Ort namens Zuhause gibt.
    Sie steht an den Stamm geschmiegt, wie sie sich früher an ihren Vater geschmiegt hat, die Arme um die rissige silberne Rinde geschlungen, ihr seidig glänzendes Hemd verdreckt und blutverschmiert, zitternd, stumm, redet sich ein, dass Rettung nahe ist, jenseits des dunklen Waldes und der toten Bäume, die keinen Schutz bieten. Wieder streicht ein weißer Strahl über sie. Es ist nicht die Lichtflut aus dem Bauch eines Flugzeugs, das über dem Ödland dahinfliegt wie ein riesiger Maschinenengel, der müßig nach einer verlorenen Seele Ausschau hält, um sie zu retten.
    Lauf, Nanna, lauf , ruft eine Stimme.
    Lauf, Nanna, lauf , denkt sie.
    Der Schein einer Taschenlampe ist jetzt auf ihr, das gleißende Auge. Es ist da.

Zweites Kapitel
MONTAG, 3. NOVEMBER
    »Es ist im Hinterhaus«, sagte der Polizist. »Ein Obdachloser hat sie gefunden.«
    Halb acht Uhr morgens, noch dunkel. Es regnete eisige Bindfäden. Vicekriminalkommissær Sarah Lund stand im Windschatten des schmutzigen Backsteinbaus in der Nähe der Docks und sah den Uniformierten zu, die das Gelände absperrten. Der letzte Tatort, den sie in Kopenhagen sehen würde. Ein Mord natürlich. Eine Frau noch dazu.
    »Das Gebäude steht leer. Wir überprüfen den Wohnblock gegenüber.«
    »Wie alt ist sie?«, fragte Lund.
    Der Polizist, ein Mann, den sie kaum kannte, zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Regen vom Gesicht.
    »Warum fragen Sie?«
    Ein Albtraum, wollte sie sagen. Einer, aus dem sie um halb sieben mit einem Schrei hochgefahren war. Als sie aufstand, tappte Bengt, der liebe, fürsorgliche, ruhige Bengt, in der Wohnung umher und packte die letzten Sachen. Mark, ihr Sohn, lag in tiefem Schlaf vor dem Fernseher in seinem Zimmer und regte sich nicht, als sie leise hineinspähte. Am Abend würden sie
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