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Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Titel: Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Autoren: Maximilian Dorner
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Auto, lag jenseits seines Vorstellungsvermögens, so fremd ist ihm das Gerät immer noch. Dass auf seinen Körper kein Verlass ist, hat sich ihm inzwischen tief eingebrannt. Dass nun auch die Gegenstände in seiner unmittelbaren Umgebung sich seinem Willen widersetzen, wirkt wie eine finstere Drohung. Auf die ist Max nicht gefasst gewesen.
    Mit den Krücken tastet er sich bis zur Kreuzung zurück und findet tatsächlich
    – rein zufällig natürlich! –
    die verloren gegangene Schraubenmutter. Ohne Werkzeug lässt sie sich allerdings nicht wieder befestigen.
    Hinter ihm schnappen die U-Bahn-Züge auftauchend nach Luft. Er setzt sich auf einen Betonpoller und nestelt das Handy aus der Jackentasche. Unverrichteter Dinge lässt er die Hand wieder sinken. Im Kopf geht er alle Bekannten durch, dann Freunde aus seiner Stuttgarter Zeit. Bei jedem Namen fällt ihm eine andere Begründung ein, warum er gerade diese Person im Moment nicht anrufen darf. Nicht stören, er möchte nicht stören, aber da ist noch mehr: Er bringt es nicht über sich, jemanden um Hilfe zu bitten. Das geht nur bei Kleinigkeiten: die Türe aufhalten, eine Steigung hochschieben, so etwas. Nicht jedoch jemanden auffordern, im Feierabendverkehr durch die Stadt zu fahren, um bei ihm eine Schraube festzuziehen.
    » Kann ich dir helfen?«
    Er sieht auf. Vor ihm steht eine Frau in seinem Alter. Ein paar Meter dahinter trottet ein vielleicht zehnjähriges Mädchen heran, anscheinend ihre Tochter.
    » Wenn du einen Inbusschlüssel dabei hast.«
    Die Frau lächelt. Sie hat den Typ mit dem Rollstuhl bereits von der anderen Straßenseite aus gesehen und befürchtet, er wäre vielleicht angefahren worden. Ihr Erste-Hilfe-Kurs liegt doch schon so lange zurück! Nun scheint ja alles halb so schlimm zu sein.
    » Weißt du was?«, sagt sie. » Ich bin eh gerade auf dem Weg zur Werkstatt, du wartest hier, und dann sammle ich dich ein.«
    Sein Radbruch erscheint ihm noch immer so unwirklich, dass er dieses Angebot wie eine Selbstverständlichkeit abnickt, ohne einen Funken von Freude oder wenigstens Erstaunen.
    » Übrigens, ich heiße Anke, und das ist meine Tochter Felicitas.«
    Als ob es ganz normal wäre, dass Frauen mit geräumigen VW -Bussen auf dem Weg zu einer Werkstatt vorbeikommen, sobald du sie brauchst! Als ob Anke zufällig gerade an dieser Ampel die Straßenseite gewechselt hätte! Als ob ihre Tochter zufällig Felicitas heißen würde. Da hat doch jemand ordentliche Arbeit geleistet, oder etwa nicht?
    Keine Viertelstunde später parkt Anke den dunkelroten Bus unmittelbar hinter den Betonpollern. Max rappelt sich auf und setzt sich neben das grimmig dreinblickende Mädchen auf die Rückbank, während Anke das Rollstuhlwrack im Heck verstaut.
    Nach einigen pflichtschuldig absolvierten Konversationsversuchen schweigen sie während der kurzen Fahrt. Alle drei genieren sich, aus unterschiedlichen Gründen: Anke ist ihr Vorpreschen peinlich. Vielleicht wollte der Behinderte gar nicht, dass ihm geholfen würde. War sie etwa wieder übergriffig? In letzter Zeit ist ihr das mehrfach vorgeworfen worden: Man bekäme in ihrer Gegenwart kaum Luft. – So etwas hat sie sich anhören müssen von ihrem Mann, der damit nur von seinen Fehlern ablenken wollte!
    Felicitas zieht an dem Gurt, um einen Gedanken zu vertreiben, der hartnäckig an die Oberfläche strampelt: Wenn sie auch so einen Rollstuhl hätte wie der unrasierte Mann, müsste sie nicht in die blöde Ballettstunde. – Einen Augenblick schämt sie sich mit der Stimme ihrer Mutter für den bösen Satz. Wenige Sekunden später verschmilzt sie wieder mit der Hauptfigur ihres Buchs, das sie heimlich zwischen die Ballettsachen geschmuggelt hat.
    Und Max beglückwünscht sich selbst, keinen seiner Freunde herzitiert zu haben. Nun berührt ihn sogar unangenehm, es überhaupt in Erwägung gezogen zu haben.
    In der Werkstatt zieht der Mechaniker eine Augenbraue hoch, als die beiden Teile des Rollstuhls vor ihm stehen. Meinen die etwa, er wäre die Wohlfahrt? Aber die Frau ist eine treue Kundin, also schluckt er die Bemerkung hinunter … Schweigend zieht er einen Schraubenschlüssel aus der linken Hosentasche, steckt instinktiv den richtigen Aufsatz darauf und schraubt innerhalb von siebzehn Sekunden das Rad an. Max zählt mit. Die Lösung steht wieder einmal in einem absurden Missverhältnis zur Größe des Problems.
    Der Mechaniker sieht auf die Armbanduhr der Frau und überschlägt die Stunden bis zum Feierabend.
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