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Mein Offizier und Gentleman

Mein Offizier und Gentleman

Titel: Mein Offizier und Gentleman
Autoren: ANNE HERRIES
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in den Speisesaal folgte, musste einen kleinen, missgünstigen Stich unterdrücken, als sie sah, wie aufmerksam Lord Harcourt sich seiner Tischdame annahm.
    Lucy fand sich an der Tafel den beiden gegenüber zwischen zwei älteren Herren platziert, Freunden von Drew, die sich große Mühe gaben, sie zu unterhalten, sodass sie bald ihre Verlegenheit vergaß und lachend, mit funkelndem Blick, auf deren Neckereien einging. Sie ahnte nicht, wie bezaubernd sie aussah, noch dachte sie daran, dass Lord Harcourt sie von seinem Platz aus genau im Blickfeld hatte.
    Als von der anderen Seite der Tafel ein Heiterkeitsausbruch an sein Ohr drang, sah Jack auf und betrachtete Lucy. Zuvor war sie in seinen Augen ein unbeholfenes Kind gewesen, doch nun sprühte sie vor Leben und wirkte außerordentlich charmant, wie sie da mit blitzenden Augen auf die Scherze der Herren einging. Jack wurde ein wenig an seine Schwester erinnert, die in ihrer frühen Jugend ein süßes, unschuldiges Mädchen voller Lebensfreude gewesen war. Inzwischen war Amelia ihre Lebenslust völlig abhanden gekommen. Bei diesem Gedanken verdüsterte sich seine Miene, sodass er sehr streng aussah.
    Diesen Augenblick wählte Lucy, um zu ihm hinüberzuschauen, und deutete seinen düsteren Ausdruck als Missbilligung. Die Wangen wurden ihr heiß. Was hatte sie getan, dass er sie derart ansah? Sie hatte ihn von Mariannes Hochzeit her als charmant und freundlich in Erinnerung, doch nun wirkte er, als könnte er sie nicht leiden. Ihr Stolz half ihr, sich zu fassen. Natürlich war ihr Verhalten im Garten tadelnswert gewesen; bei ihrer Kletterei hatte sie mehr enthüllt, als schicklich war – aber gewiss hatte sie doch nicht derart feindliche Blicke verdient? Entschlossen, nicht zu zeigen, wie gekränkt sie war, wandte sie sich wieder ihrem Tischherrn zu, der eben ihre Meinung über Byrons Gedichte hören wollte.
    Wie dumm von ihr, all die Zeit Lord Harcourts Bild in ihrem Herzen getragen zu haben! Er war ihr Held, ihr Traumprinz aus den Märchen ihrer Kindheit gewesen. Nun erwies er sich, wie sie fand, als kalt und hochmütig, und sie beschloss, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.
    Nachdem Lucy geraume Zeit vergeblich auf den Schlaf gewartet hatte, stieß sie die Bettdecke fort und stand auf. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie das Buch holen, das sie am Nachmittag unten in dem kleinen Salon hatte liegen lassen. Rasch warf sie ihren Morgenmantel aus schwerer Seide über und schlüpfte in ihre Pantöffelchen, dann nahm sie die Kerze und huschte die Treppe hinab zu dem besagten Raum. Beim Eintreten wehte ihr ein kühler Luftzug entgegen. Erstaunt stellte sie fest, dass die hohen Fenster zur Terrasse offen standen. Ein Versäumnis der Dienerschaft? Eben wollte sie die beiden Flügel schließen, als unversehens aus dem Dunkel drohend eine männliche Gestalt vor ihr auftauchte und sie erschreckt zurückzucken ließ.
    „Lord Harcourt!“, rief sie, als er über die Schwelle ins Licht trat und sie ihn erkannte. „Sie sind es! Ich dachte schon, ein Fremder wäre eingedrungen.“
    Kritisch musterte er ihren Aufzug. „Was machen Sie hier, Miss Horne? Ich dachte, Sie hätten sich längst zurückgezogen?“
    „So war es auch, aber da ich nicht schlafen konnte, kam ich noch einmal hinunter, um mein Buch zu holen.“
    „Dann ging es Ihnen wie mir“, sagte er. „Auch ich konnte nicht schlafen, deshalb beschloss ich, draußen eine Zigarre zu rauchen.“ Er hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet. „Welch glückliche Fügung, dass Sie bei ihrem nächtlichen Aus fl ug auf mich trafen … andernfalls hätte es für Sie recht peinlich werden können – gelinde ausgedrückt.“
    „Oh …“ Lucy errötete, als ihr dämmerte, dass sie sich gerade, höchst unziemlich bekleidet, mit einem Herrn unterhielt, den sie kaum kannte. „Ich muss zurück, Sir. Eine gute Nacht wünsche ich.“ Damit wandte sie sich um und hastete, das Buch an sich gepresst, mit heftig pochendem Herzen hinaus.
    „Gute Nacht, Lucy …“ Seine Stimme schien sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer zu verfolgen. Wieder hatte sie das Gefühl, Lord Harcourt müsse sie für ein törichtes junges Ding halten.
    Jack Harcourt ging in die Halle hinaus, wo der Nachtpförtner in seinem Stuhl eingeschlummert war, und nahm eine der dort bereitstehenden brennenden Kerzen an sich. Auf dem Weg zu seinem Zimmer dachte er an die vorherige Episode. Das Treffen mit Miss Horne, nur in ihren Nachtgewändern, hatte ihn
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