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Mein ist dein Tod

Mein ist dein Tod

Titel: Mein ist dein Tod
Autoren: Volker Ferkau
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Klinge schneidet dem Jungen über die Kehle, das Fleisch klafft auseinander und Blut netzt ihre Lippen, die begeistert aufschnappen, als wollten sie es trinken. Soeben geschehen wendet sie sich Täter Nummer zwei zu. Und erneut dringt ihre Klinge in weiches Fleisch, während sie weint und jubelt und kreischt und immer wieder denkt: Du bist erwachsen! Du bist erwachsen genug! Und falls Scheißkerl Nummer drei noch nicht geflohen ist, was meistens nicht geschieht, tötet sie wie ein Indianer, zumindest so, wie sie es als Kind gelesen hat. Sie reißt dem Jungen die hart gestylten Haare nach hinten und die Klinge umrundet die Stirn. Sie stößt nach, führt einen weiteren tiefen Schnitt, der knirscht, da er festes Fleisch schneidet, und schließlich reißt sie dem entsetzlich Kreischenden den Skalp vom Schädel. Blut läuft über weiße Knochen, die Augen des Skalpierten sind groß und weiß, und Lena wirft die Trophäe weg.
    Eine Straßenbahn nähert sich bimmelnd und zerquetscht Haut und Haare auf den Schienen.
    Dann sind die Täter verschwunden. Es gibt auch kein Blut mehr. Sie dreht sich um und möchte zu Deniz, der still am Boden liegt, während Toni sein Snowboard anstarrt und Wölfi das Bein hebt. Sie will zu Deniz, ihn aufwecken, ihn wieder lebendig machen, doch so sehr sie sich auch anstrengt, gelingt ihr kein weiterer Schritt. Ihr ganzer Körper ist wie gelähmt, als hätte die Ausübung ihrer Rache ihr alle Kraft genommen.
    Und der Nebel senkt sich über das Grauen ...

4
     
    Lena schwieg. Ihre Augen waren trocken. Sie hatte in den letzten zwei Jahren zu viel geweint. Sie sagte: »Dann erwache ich schweißnass und voller Furcht. Aber auch entlastet. Jedenfalls für diese Nacht. In der nächsten Nacht beginnt alles wieder von vorne.«
    Sie betrachtet den Mann ihr gegenüber. Anfang vierzig, schlank, sportlich, leicht gebräunt, welliges schwarzes Haar. Das Gesicht schmal, dunkle Augen, eine etwas zu kleine Nase, dafür volle Lippen, Viertagebart. Er ging auch für fünfunddreißig durch. Seine Stimme war dunkel und klar akzentuiert. Eine seltsame Mischung aus Hugh Jackman und Antonio Banderas. Hatte der Mann südländische Vorfahren?
    Sie straffte sich, was ihre festen Brüste und die schlanke Taille betonte, und fand sich im selben Moment lächerlich. Der Mann konnte ihr Vater sein. Außerdem war sie hier, weil der Traum sie so sehr quälte, dass sie irge ndwann im Stehen schlafen würde, wenn sich nicht etwas änderte. Zwar konnte sie nicht verhindern, dass der Doktor eine erotische Wirkung auf sie ausübte, aber das mochte auch durch die Stille im Raum kommen und davon, dass sie völlig alleine waren. Sehr vertraulich beisammen. Wie gute Freunde, die sich vertrauen.
    Vielleicht war es auch der Traum, der sie erhitzte.
    Er lächelte. »Na ja, ich möchte jetzt nicht hergehen wie mein großes Vorbild C. G. Jung und Ihren Traum mit Ihnen gemeinsam deuten, allerdings weiß man, dass eben jene Dinge, die uns in einem Traum am wenigsten auffallen, die wichtigsten sind.«
    » Wollen Sie sagen, meine Rache und Gewaltbereitschaft sind unwichtig?«
    » Nein, das will ich nicht sagen. Sie sind gewiss nicht unwichtig, aber mir fällt dieses Bild von Wölfi ein, den Sie als Hund träumen. Und von Toni, der sein Skateboard ...«
    » Snowboard.«
    » Der sein Snowboard betrachtete, als sei nichts geschehen. So grauenvoll der Traum auch war, fand ich diese beiden Bilder am schlimmsten. Stille Bilder am Rande, aber immer präsent.«
    Sie überlegte.
    Er sieht wirklich verdammt gut aus in seiner hellen Sommerhose und dem Poloshirt.
    » Wenn Sie das jetzt so sagen ...«
    » Außerdem meinten Sie es vorhin selbst: Sie begreifen nicht, dass solche Dinge geschehen, ohne dass jemand eingreift. Keine Zivilcourage, sagten Sie.«
    » Toni war sturzbetrunken. Er hätte nichts machen können. Und Wölfi ist fast ein Mädchen. Stockschwul und zierlich.«
    » Sie haben noch mehr gesagt, nämlich, dass Sie sich wundern, dass so etwas immer wieder geschieht.«
    Ohne darüber nachzudenken fuhr sie hoch, ließ sich wieder in den Sessel fallen und stieß hervor: »Ja, das hasse ich. Am helllichten Tage geschieht so etwas. Überall. Und niemand hebt die Hand, um den Opfern zu helfen.«
    » Das, was Sie erleben mussten, hat sich mit ähnlichen Dingen, die immerzu geschehen, sozusagen vermischt, Lena. Sie mögen über die milde Bestrafung der Täter und den Tod Ihres Freundes irgendwann hinwegkommen, denn Sie wissen, dass Sie und Ihre Freunde
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