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Mein ist dein Tod

Mein ist dein Tod

Titel: Mein ist dein Tod
Autoren: Volker Ferkau
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dem Unglück hilflos ausgeliefert waren, dennoch fragen Sie sich, warum so vielen Opfern, denen geholfen werden könnte, weil sie eben nicht Nachts im Nebel überfallen werden, nicht geholfen wird. Warum die schweigende Menge zuschaut. Warum keiner die Hand erhebt und ruft: Lasst uns etwas tun! Warum sich niemand einmischt. Was, wenn die Sache mit Deniz tagsüber geschehen wäre? Hätte man ihn retten können? Sie glauben, es wäre genauso gekommen, wenn hundert Menschen drum herum gestanden hätten. Sie hassen nicht die Täter, sondern die Zuschauer!«
    Lena starrte den Psychologen an. Mit bebenden Lippen sagte sie: »Ich hatte eine Therapie bei einem Ihrer Kollegen. Nach sechs Monaten brach ich sie ab, da wir nicht weiterkamen. Und Sie sagen mir nach dreißig Minuten so etwas? Etwas, für das ich Sie am liebsten schlagen und gleichzeitig küssen möchte?«
    Dr. Maximilian Jung runzelte die Stirn und kritzelte auf seine m Block. Lena war sicher, dass er verlegen war. Doch sie war nicht hier, um Spielchen zu spielen. Also fragte sie: »Und was fangen wir mit dieser Erkenntnis an?«
    » Wir überprüfen meine Annahme. Wir werden viel miteinander reden und ich werde Ihnen manche Frage stellen. Es wird für Sie harte Arbeit sein, Lena.«
    Sie fragte: »Die Täter waren noch so jung, fast noch Kinder. Ich bin sicher, sie hatten nicht vor, Deniz zu töten und Toni so schwer zu verletzen, dennoch taten sie es. Kann wirklich jeder zum Mörder werden? Einfach so? Von jetzt auf gleich?«
    Dr. Maximilian Jung sagte: »Ich fürchte, so ist es. Gruppenzwang, Veranlagung, die Loslösung von Konventionen, die Familie.«
    » Und wie geschieht so etwas?«
    » Es ist in uns Menschen. Wir alle balancieren auf einem schmalen Grat. Uns wurde Sozialverhalten antrainiert, doch hinter der gesellschaftlichen Fassade lauern Dinge, die wir am besten niemals zu sehen bekommen.«
    » Und die Zuschauer? Sie stehen dabei, gaffen oder glotzen woanders hin. Sie hören die Schreie des Verwundeten, sehen, dass vielleicht ein Mord geschieht. Wenn sie so in Sozialverhalten trainiert sind, müssten sie eigentlich hingehen und sagen: Lass das!«
    »Was die allerbeste Möglichkeit wäre, denn wenn einer geht, folgen ihm andere. Auch eine Art von Gruppenzwang. Ich werde Ihnen das gerne genauer erklären, doch dafür bleibt uns heute keine Zeit mehr.«
    Lena wurde zornig. Sie hatten noch zehn Minuten. Sie forderte noch mehr Antworten, war wie ein kleines Mädchen, dass sich das halb gelutschte Milcheis nicht wegnehmen lassen wollte.
    »Denken Sie über die neue Wahrnehmung Ihres Traumes nach und erzählen mir in zwei Tagen, wie die Nächte gewesen sind.«
    Lena dachte nach. Ihr Kopf ruckte hoch. »Vielleicht haben Sie Recht, Doktor, vielleicht aber auch nicht.«
    » Warum?«
    » Diese neue Sichtweise nimmt mir nicht die Wut. Ich töte in meinen Träumen, aber nicht selten erwache ich und würde am liebsten alles in die Tat umsetzen. Es ist, als rieche ich das Blut der Opfer. Und dann will ich losgehen und diesen Wichsern die Kehlen durchschneiden.«

5
     
    Maximilian Jung, der von klein auf nur Max genannt wurde, sortierte die Aufzeichnungen und schloss seine Praxis. Für heute hatte er genug gehört.
    Magdalena Mora war traumatisiert, und zwar auf eine Weise, durch die sie sich früher oder später Schaden zufügen konnte.
    Das Schuldgefühl, ihrem Freund nicht geholfen zu haben, mischte sich mit Selbsthass, den sie wiederum auf andere Menschen projizierte, welche immer das auch waren, im schlimmsten Fall die Zuschauer solcher grauenvollen Taten. Daraus resultierten ihre Träume, die von einer so deutlichen Qualität waren, dass es keines Freuds benötigte, um sie zu deuten.
    Max war auch die latente Sexualität seiner Klientin nicht verborgen geblieben. Sie hatte sich äußerst sexy gekleidet, doch er ging jede Wette ein, dass sie seit dem Tod ihres Freundes kein sexuelles Verhältnis mehr gehabt hatte. Vermutlich eine Geste zur Hebung des Selbstwertgefühls, vielleicht auch der Rache, denn nicht wenige attraktive Frauen nutzten ihre Körperlichkeit, um Vergeltung an Männern zu nehmen, deren Aufmerksamkeit sie gleichermaßen liebten und hassten. Falls das so war, verkomplizierte sich das Krankheitsbild.
    Er war sich bewusst, dass es mit Lena problematisch werden konnte, eine gesunde Übertragung herzustellen, die notwendig war, um ein übereinstimmendes Ergebnis zu erzielen. Im Rahmen von Psychotherapien kam es regelmäßig zu Übertragungen, wovon Max
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