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Mein Gott, Wanda: Roman (German Edition)

Mein Gott, Wanda: Roman (German Edition)

Titel: Mein Gott, Wanda: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrike Herwig
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sah auf seine Armbanduhr. »Halb neun«, rief er zurück.
    Wanda zwang sich zu einem freundlichen Nicken und trat den Rückzug ins Haus an. Halb neun. Als ob sie ihr schwerhöriger Nachbar daran erinnern musste, wie ewig lang dieser Tag noch war. Ein Tag, der ihr schon die erste schmähliche Niederlage eingebracht hatte, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte. Ein Tag, der genauso ereignislos verlaufen würde wie die letzten vierzig Tage. Seit sie ihren Teeladen verkauft und sich selbst mit dreiundsechzig ins Rentnerdasein befördert hatte. Irgendwie hatte sie sich das alles anders vorgestellt. Befreiender. Aufregender. Voller Kunstausstellungen, Konzerte, Reisen. Voller alleinstehender, niveauvoller Männer in ihrem Alter … Stattdessen fühlte sie sich seit vierzig Tagen wie von einer unerklärlichen Lähmung befallen und hatte es gerade mal geschafft, ihren Badezimmerschrank zu entmisten. Wenn ihre Freundinnen Biggi und Marianne sie in den letzten Wochen nicht immer wieder gezwungen hätten, irgendwas zu unternehmen, wäre sie völlig versauert. Was war nur mit ihr los? Sie war doch gesund, sie sah noch attraktiv aus – kurze dunkle Haare mit ein paar grauen Strähnchen, voller Mund, dunkle Augenbrauen. Jemand hatte ihr vor einiger Zeit gesagt, dass sie Isabella Rosselini ähnelte, allerdings offenbar erst im Alter, denn über sechzig Jahre lang war das keiner Menschenseele aufgefallen. Abgesehen von etwas Hüftspeck war Wanda noch relativ schlank, sie hatte Geschmack, die Andeutung eines Grübchens, wenn sie lachte, eine Menge Fältchen um Augen und Mund, aber wenigstens keine bizarren Warzen, aus denen Haare wuchsen, oder nervöse Ticks und Macken. Das hoffte sie jedenfalls stark. Und dennoch – nach all den Sorgen um den Teeladen der letzten Jahre fühlte sie sich wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Leer, schlaff und irgendwie unmotiviert. Würde das etwa so bleiben? Würde sie jeden Tag aufs Neue morgens in der Hoffnung aufstehen, dass vielleicht an diesem Tag etwas Grandioses, Aufregendes passierte, nur um abends wieder resigniert festzustellen, dass ihre besten Jahre offenbar hinter ihr lagen und »Lebensabend« einfach nur bedeutete, dass einen die moderne Welt irgendwann nicht mehr vermisste, selbst wenn man noch am Leben war?
    Nein, verdammt noch mal. Sie schraubte die Marmelade zu. Rentnerin – wie das klang. Nach Apotheke, nach beigefarbenen Sandalen, nach Haarnetzen. Wanda holte tief Luft.
    Sie würde heute Abend mit Biggi zum Salsakurs gehen. Und dort würde sie geschmeidig, temperamentvoll und leidenschaftlich tanzen, denn sie würde sich heute die passenden Schuhe dafür kaufen. Wenn noch Zeit war, würde sie gleich mal im Teeladen nach dem Rechten sehen. Vielleicht brauchte Martin ja noch ein paar gute Ratschläge.
    Etwas, das sie dem neuen Besitzer bei ihren fast täglichen Besuchen in den letzten Wochen vergessen hatte mitzuteilen.
    Entgegen den vollmundigen Versprechungen der Webseite war Salsa kein Lebensgefühl, sondern eine Zumutung, das erkannte Wanda sofort. Ihre neuen Schuhe brannten und drückten, und sie hatte sich viel zu sehr aufgedonnert mit ihrer türkisfarbenen Tunika. Biggi sah allerdings auch nicht viel besser aus. Sie platzte bald aus dem unvorteilhaften Kleid aus rotbraunem Knittersamt heraus. Seit ihrer Scheidung vor einem Jahr zog Biggi nur noch so mondänes Zeug an, egal, ob es zu ihr passte oder nicht. Sie wollte keine Motte mehr sein, sondern ein Schmetterling, hatte sie Wanda erklärt. Ein Schmetterling mit zweiundsechzig … Na ja. Auf Wanda machte sie heute mehr den Eindruck eines Mehlkäfers in Feinstrumpfhosen, aber andererseits war Wanda ja froh, dass sie Biggi hatte. In der spartanischen Turnhalle wirkten sie jedenfalls beide völlig fehl am Platz. Biggis schweres Parfüm vermischte sich mit dem Geruch nach Medizinbällen und pubertärem Schweiß, der diesem Ort anhaftete, und Wanda bekam kaum noch Luft. Sie wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Vielleicht ein Café oder elegantes Tanzstudio … Stattdessen saßen sie in der Turnhalle der Wagnerschule auf Holzbänken, die wahrscheinlich untendrunter mit Kinderpopeln beschmiert waren, und warteten gemeinsam mit sechs anderen Frauen auf einen gewissen Ernesto. Nur mit anderen Frauen. Männer waren noch keine gekommen.
    Wanda sah sich unauffällig um. Drei stämmige Freundinnen in Sportkleidung saßen wie eine Gebirgsformation
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