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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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objektivistischen herrenzynischen Reflexion, die das Freiheitsstreben anderer im Stil einer funktionalistischen Ideologiekritik verhöhnt. Marx hat auf der einen Seite etwas vom Rebellen, auf der anderen vom Monarchen; seine linke Hälfte gleicht Danton, seine rechte erinnert an Bismarck. Wie Hegel, der ein ähnliches Doppelnaturell von Revolutionär und Staatsmann in sich trug, ist er einer der größten dialektischen Denker, weil in ihm eine fruchtbare innere Polemik mindestens zweier sich aneinander abarbeitender Denkerseelen wirksam war. Althussers theoretische und existentielle Tragödie nimmt ihren Ausgang von seiner Parteinahme für den »rechten« Marx, den er in dessen Schriften nach der sog. coupure épistémologique entdeckt; es ist jener »realpolitische« Marx, dem Althusser eine absolut »wissenschaftliche«, von allen humanistischen Sentimentalitäten gereinigte »Realtheorie« des Kapitals unterstellt; dies ist der Sinn seiner »strukturalen Lektüre«.
    Das Werk des jungen Marx gründet in den Eindrücken der Hegelschen Logik, mit der er gegen den Hegelschen Idealismus selbst zu Felde zog. Arbeit und Praxis sind die Schlüsselbegriffe, mit denen man hegelianisch aus dem Gehäuse des Systems hinausfindet. Sie versprechen einen wissenschaftlichen Ansatz neuen Typs, eine Empirie, die nicht hinter die Höchstpositionen philosophischer Reflexion zurückfällt. Mit diesen Begriffen von Arbeit und Praxis, die sich in dem pathetischen Begriff der Politik vereinigten, ging die linkshegelianische Generation über ihren Meister hinaus. Aus diesem Geist erwuchs eine kräftige, angriffslustige Sozialkritik, die sich als »realer Humanismus«, als Wendung zum »wirklichen Menschen« verstand.
    Die Genialität des jungen Marx erwies sich darin, daß er mit einer Wendung vom Hegelschen »System« zur nachhegelschen humanistischen »Kritik« sich nicht zufriedengab. Seine heftigste Polemik richtete sich darum zunächst gegen seine größte Versuchung, die er mit seiner Intelligenzgeneration teilte: die, in bloßer »kritischer Kritik« zu verharren. Er spürte und rationalisierte sein Gespür dafür, daß eine kraftvolle kritische Theorie die Gegenstandswelt und die Wirklichkeit selbst erobern muß, um sie sowohl positiv wie kritisch zu begreifen. Dieser Impuls begründet unter anderem seine Wendung zur Ökonomie, die er in ihrer naiven bürgerlichen Gestalt aufgreift, um sie mit einer reflektierten Theorie zu überbieten. Das blasse Wort Lernprozeß reicht an dieses Drama einer kreativen Reflexion nicht heran. Marx’ Denken ging den Weg vom Hegelschen System zur Kritik der politischen Ökonomie, von einem kontemplativen Theoriebegriff zum Verständnis von Theorie als Weltmovens, von der Sphäre der Ideen zur Entdeckung der Arbeit, von der abstrakten zur konkreten Anthropologie, vom Naturschein zur Selbsterzeugungsgeschichte der Menschheit. Als Theorie sozialer Emanzipation konnte sich das Marxsche Wissen nur Geltung verschaffen, wenn es zugleich ein massenhaftes Ich benannte, das im Spiegel dieser Theorie die Möglichkeit seiner Freiheit erkennen würde. Hier machte sich Marx zum historisch-logischen Lehrer und Patron des Proletariats, das er als den prädestinierten Schüler seiner Theorie identifizierte. An ihm wollte er der große Befreier werden, indem er sich als Lehrer der Arbeiterbewegung in den Gang der europäischen Geschichte einschaltete.
    Nun ist Marx jedoch mindestens zweimal in einer Weise über Leichen gegangen, die Zweifel an seinem Lehranspruch und seinem Realismus weckt. Ich sehe in Max Stirner und in Bakunin die intimsten Gegner von Marx, weil sie jene Theoretiker waren, die er nicht einfach überbieten konnte, sondern die er, um sie auszuschalten, mit seiner Kritik förmlich vernichten mußte. Denn beide repräsentierten nichts anderes als logische und sachliche Alternativen zu den Marxschen Lösungen, Stirner in der Frage, ob und wie man »privat« Entfremdung durchbrechen könne, Bakunin in der Frage, ob und wie man zur künftigen »entfremdungsfreien Gesellschaft« finde. Beide hat Marx mit einem geradezu vivisektorischen Haß in Grund und Boden kritisiert. Die berühmte posthume Deutsche Ideologie , zum größten Teil gegen Stirner gerichtet, enthält die intensivste Einzelauseinandersetzung, die Marx und Engels jemals mit einem Denker geführt haben; und die Bakuninvernichtung war für Marx ein über viele Jahre gehendes Geschäft. Im Haß von Marx gegen beide, in seinem Hohn und in seiner
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