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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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hinausgeworfen, meint Stirner, so bleibt ein schönes, eigenes Ich übrig, das sich am »Besitz« seiner selbst gütlich tut. In strahlender Naivität redet Stirner vom »Eigentum«, das der Einzige an sich selber hat. Besitzen kann man aber nur etwas, was real existiert. Es liegen hier gültige Reflexionserfahrung und verworrene Naivität um Haaresbreite nebeneinander. Die existentialistische Reflexion auf das »eigene« Bewußtsein ist so realistisch wie der Übergang zur Vorstellung des Selbsteigentums falsch. Selbstreflexion läßt nichts Gegenständliches, das man besitzen könnte, übrig.
    Marx und Engels demontieren diese Konstruktion bis in die Atome. Von Verachtung beflügelt, liefern sie sich ein Fest der satirischen Reflexion, die so wach wie nur möglich in der inneren Struktur des Bewußtseins sich bewegt. Aber in der Zerstörung der Stirnerschen Illusion zerstören sie mehr als nur den Gegner – sich selbst in ihm. Wie sie das machen, Zeile für Zeile, mit intensiver Logik, akribischer Philologie und grausamer Zerstörungslust, das ist mehr als Kritik; es ist die Beschwörung einer Gefahr, die Ausschaltung einer »anderen Möglichkeit«. Tatsächlich konnte der Marxismus den anarchistischen und existentialistischen Schatten, der auf Stirner zurückfiel, niemals von sich abschütteln. Erst bei Sartre und Marcuse gewann dieser Schatten in einem marxistisch inspirierten Denken wieder dichteres Leben.
    Marx gehört nicht zum Typ jener Naiv-Genialischen, die, wie Schelling, »ihre Ausbildung vor dem Publikum« machen. Die Deutsche Ideologie blieb ein Privattext. Er wurde vor 1932 nicht veröffentlicht. Seither hat ihn die Marxphilologie als heiligen Text herumgereicht. In der Studentenbewegung wurde er als antisubjektivistische Waffe ins Feld geführt – von den »strengen« Marxisten gegen die Spontaneisten und die akademischen Blumenkinder. In Wahrheit jedoch hatte die Diskretion von Marx und Engels hinsichtlich ihrer intensivsten ideologiekritischen Schrift einen guten Grund. Die Deutsche Ideologie plaudert aus der Schule. Man kann an ihr lernen, daß sich Marx und Stirner in der Frage der Subjektivität symmetrisch falsch verhalten. Beide wissen, daß das Bewußtsein der Menschen, so wie man es zunächst findet, »entfremdet« ist und von einer geduldigen Reflexion »angeeignet« werden muß. Beide denken in der Dialektik des Eigenen und des Fremden, jedoch finden beide nicht das Mittlere, sondern stürzen sich in exklusive Alternativstellungen. Stirner wählte den rechten, Marx den linken Weg. Stirner meint, in einem individualistischen Reinigungsakt die Enteignung aufheben zu können. Der Einzige lernt in seinem »Mannesalter«, sich von seinen inneren Fremdprogrammierungen abzustoßen, so daß er sie zugleich hat und nicht hat, sie also als ihr freier Herr und Besitzer »behält«. Indem er Gedanken und Dinge als seine eigenen preisgibt, verlieren sie ihre Macht über ihn. Es gehen bei Stirner realistische Selbstreflexion und ideologischer Ich-Kult hart ineinander über. Was eine produktive Erfahrung innerer Distanzierung von Dressuren sein kann, wurde im Stirnerianismus dogmatisch verhärtet zu einem neuen »kurzen Denken«.
    Die Marxsche Untersuchung der Klassenbewußtseine ist im Ausgangspunkt ebenso realistisch. Klassenbewußtseine, Weltbilder und Ideologien lassen sich in der Tat als »Programmierungen« verstehen; sie sind Vermittlungen, geformt-formende Schemata des Bewußtseins, Ergebnisse eines weltgeschichtlichen Selbstbildungsprozesses jeglicher Intelligenz. Diese Betrachtungsweise bahnt den Weg zu einer fruchtbaren Analyse von Bewußtseinsgebilden, die vom Fluch des naiven Idealismus frei werden kann. Aus diesem Ansatz jedoch fallen Marx und Engels mit ihrem »in letzter Instanz« dogmatischen Materialismus wieder heraus. Sie heben die Subjektivität im historischen Prozeß auf. Das zeigt sich in der Härte und Verachtung, mit der Marx gerade seine »existentiellen« Gegner behandelt. In dieser Brutalität rührt sich bereits die andere, die herrenmäßige Form der Reflexion. Wo Stirner sein revoltisch-auftrumpfendes Ich in die öffentliche Arena führte, produzierte der Marxismus einen Revolutionär, der mit dem Gefühl höchster Schlauheit und raffinierter Realistik sich selbst als Mittel im historischen Prozeß benutzt. Im Clinch mit Stirners falschem Einzigen entsteht in der Marxschen Theorie der Ansatz zum falschen Niemand , jenem Revolutionär, der selber nur noch ein verbissenes
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