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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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bodenlosen Verachtung wirkte eine Energie, die mit Temperament und Konkurrenzgefühl bei weitem nicht zu erklären bleibt. Beide zeigten ihm systematische Grenzen seines eigenen Ansatzes – Erfahrungen, die er weder integrieren noch einfach mißachten konnte. Es kamen hier elementare und unabweisliche Überlegungen ins Spiel, für die im Marxschen Entwurf kein Raum war und kein Raum werden sollte. Ja, mehr noch, in Stirner wie in anderen Vertretern der kritischen Kritik und der »Heiligen Familie« erkannte Marx etwas, was auch in ihm wirksam war, dessen Lebensrecht er jedoch leugnen mußte, um dieser Marx zu werden. Mit seiner rechten Hälfte, mit seiner »realistischen«, staatsmännischen, realpolitischen und großtheoretischen Seite drückte er die linke, revoltische, vitale, bloß »kritizistische« Seite nieder, die ihm in den anderen als »Position für sich« entgegentrat. Bei der kritischen Vernichtung von Stirner und Bakunin ging er gewissermaßen über seine eigene Leiche, den konkreten, existentiellen, ja letztlich »weiblichen« Teil seiner Intelligenz. Mit diesem hatte er noch realistisch-konkret gegen Hegel kritisch revoltiert; nun tritt er als Herrendenker gegen diese Seite in ihrer Einseitigkeit auf.
    Stirner gehört wie Marx zu jener jungdeutschen Generation, die im Klima der Hegelschen Philosophie mit ihrem subversiven Reflexionstraining ein außergewöhnliches Gespür für alles, was »im Kopf passiert«, entwickelt hatte (Feuerbach, Bruno Bauer, Arnold Ruge, Moses Hess, Karl Grün, Heinrich Heine u.a.).
    Hegels Logik hatte einen Raum erobert, der weder bloß Sein noch bloß Bewußtsein ist, sondern »etwas von beidem« an sich hat; das besagt die Denkfigur von der vermittelten Unmittelbarkeit. Das Zauberwort der neuen Logik ist Vermittlung. Wir dürfen es mit »Medium« übersetzen. Es gibt zwischen Sein und Bewußtsein ein Mittleres, das beides ist und in dem die Scheinantithese von Geist und Materie verschwindet; Marx hat diese Vision in seiner Theorie des Kapitals umgesetzt.
    Sagen wir es handfest: In den Köpfen der Menschen arbeiten historisch geformte Denk- und Wahrnehmungsprogramme, die alles, was von außen nach innen und von innen nach außen geht, »vermitteln«. Der menschliche Erkenntnisapparat ist gewissermaßen ein inneres Relais, eine Schaltstation, ein Transformator, in welchem Wahrnehmungsschemata, Urteilsformen und logische Strukturen einprogrammiert sind. Das konkrete Bewußtsein ist niemals etwas Unmittelbares, sondern durch die »innere Struktur« vermittelt.
    Zu dieser tradierten inneren Struktur kann sich die Reflexion grundsätzlich in drei Einstellungen verhalten: Sie kann ihr zu entkommen versuchen, indem sie sich »deprogrammiert«; sie kann sich so wach wie möglich in ihr bewegen; und sie kann sich selbst, als Reflexion, preisgeben, indem sie auf die These setzt, daß die Struktur alles ist.
    Mit diesen drei Einstellungen bekommen wir es nun zu tun. Stirners Idee ist es, aus seinem Kopf alle fremden Programmierungen einfach hinauszuwerfen. Nach dieser totalen Selbstreinigung des Kopfes soll ein nackter, gewissermaßen leerer, reflektierter Egoismus übrigbleiben. Wenn es wirklich so ist, daß die Gesellschaft »Sparren« in meinem Kopf hineindressiert hat, so müßte, schnell gedacht, meine Emanzipation wohl darin bestehen, daß ich diese fremden Programmierungen in mir demontiere. Das Eigene im Ichbewußtsein will sich so im Handumdrehen des Fremden entledigen. Stirner visiert eine Befreiung von der Entfremdung im eigenen Inneren an. Das Fremde nistet sich in mir ein; so gewinne ich »mich selbst« zurück, indem ich das Fremde ausstoße. Man kann auf vielen hundert Seiten nachlesen, wie sich Marx und Engels über diesen im Grunde schlichten Gedanken aufgeregt haben. Sie kritisieren diese neo-egoistische Position vernichtend – nicht moralisch, sondern erkenntnistheoretisch: als eine neue Selbsttäuschung. Sie zeigen, daß das Stirner-Ich, jener »Einzige«, der seine Sache auf Nichts gestellt hat und sich selbst als sein einziges Eigentum betrachtet, in eine neue Naivität springt, die sich nicht zuletzt an dem kleinbürgerlich prahlerischen Nur-noch-Ich-Standpunkt verrät. In Stirner kulminiert erstmals der theoretische Anarchismus des 19. Jahrhunderts. Stirner hat eine »existentialistische« Reduktion auf das reine Ich vollzogen – jedoch hierbei ganz naiv das Ich als etwas unterstellt, was »es gibt«. Habe ich erst das Fremde, die Gesellschaft, aus »mir«
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