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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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bevorzugt es, bei geschlossenen Fenstern zu reisen; als Gentleman beharrt er auf seinem Recht, nichts für sehenswürdig halten zu müssen; als Apathiker lehnt er es ab, Entdeckungen zu machen. Diese Attitüden kündigen ein Massenphänomen des 20. Jahrhunderts an – den hermetischen Pauschalreisenden, der überall umsteigt, ohne irgendwo etwas wahrzunehmen, was anders aussähe als die Prospekte. Fogg ist das vollendete Gegenteil seiner typologischen Vorgänger, der Weltumsegler und Geographen im 16., 17. und 18. Jahrhundert, für die jede Fahrt mit der Erwartung von Entdeckungen, Eroberungen und Bereicherungen verbunden war. Diesen Erfahrungsreisenden folgten vom 19. Jahrhundert an die Erlebnistouristen auf dem Fuß, die in die Ferne fuhren, um sich durch Eindrücke aufwerten zu lassen.
    Unter den impressionistischen Reisenden des vergangenen Jahrhunderts hat es der Kulturphilosoph Hermann Graf Keyserling durch seine Reisenotizen zu einem gewissen Ruhm gebracht – sein Reisetagebuch eines Philosophen war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein fester Bestandteil jeder seriösen deutschen Privatbibliothek. Der Autor absolvierte seine große Runde durch die Weltkulturen in dreizehn Monaten als eine Art von hegelianischem Experiment – Erleuchtung durch verzögerte Rückkehr in die deutsche Provinz. 3 Phileas Fogg freilich war gegenüber Keyserling deutlich im Vorteil, weil er nicht mehr so tun mußte, als sei für ihn bei der Fahrt ums Ganze noch etwas Wesentliches zu lernen. Jules Verne ist der bessere Hegelianer, da er begriffen hatte, daß in der eingerichteten Welt keine substantiellen Helden mehr möglich sind, sondern nur noch Helden des Sekundären. Lediglich mit seinem Einfall, auf der Atlantikpassage zwischen New York und England in Ermangelung von Kohlen die Holzaufbauten des eigenen Schiffs zu verfeuern, rührte der Engländer für einen Moment noch einmal an das originale Heldentum und gab der Idee des Selbstopfers eine Wendung, die dem Geist des Industriezeitalters entsprach. Ansonsten beschreiben Sport und Spleen den letzten Horizont für männliche Anstrengungen in der eingeräumten Welt. Keyserling hingegen streift die Lächerlichkeit, wenn er wie eine verspätete Personifikation des Weltgeistes die Erde umrunden will, um »zu sich« zu kommen – sein Motto heißt dementsprechend komisch: »Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum.« Aber wie sein Buch zeigt, kann der reisende Philosoph keine Erfahrung machen, sondern nur Impressionen sammeln.
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    1 Jules Verne, Reise um die Erde in achtzig Tagen, übersetzt von Erich Fivian, Zürich 1974, S. 23-24.
    2 Zum Lob der reinen Bewegung vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Das Manifest der Kommunistischen Partei, 1848; sowie Thomas de Quincey, The Glory of Motion, 1849 (deutsch: Die englische Postkutsche, Erster Teil, Der Zauber der Bewegung, in: Th. de Q., Bekenntnisse eines englischen Opiumessers und andere Schriften, Stuttgart 1962, S. 287f.).
    3 Hermann Graf Keyserling, Reisetagebuch eines Philosophen (1918), Frankfurt am Main 1980.

Marxistische Elegie:
Althusser und der »Bruch« in Marx
    Unbefriedigt ist und bleibt die Aufklärung. Der zweite große Faktor ihrer Selbstdementierung ist die Enttäuschung durch den Marxismus. In den Erfahrungen, was aus »orthodox« marxistischen Bewegungen wurde, im Leninismus, im Stalinismus, im Vietcong, auf Cuba und in der Bewegung der Roten Khmer, hat ein Großteil des heutigen zynischen Zwielichts seinen Ursprung. Am Marxismus erleben wir den Zusammenbruch dessen, was »das vernünftige Andere« zu werden versprach. Die Entwicklung des Marxismus war es, die in die Verbindung der Aufklärung mit dem Prinzip Links einen Keil getrieben hat, der sich nicht mehr entfernen läßt. Die Entartung des Marxismus zur Legitimationsideologie verkappt nationalistischer und offen hegemonialer und despotischer Systeme hat das vielgerühmte Prinzip Hoffnung ruiniert und die ohnedies schwierige Lust in der Geschichte verdorben. Auch die Linke lernt, daß man nicht länger vom Kommunismus reden kann, als gäbe es keinen und als könnte man unbefangen von neuem beginnen.
    Die eigenartige Doppelstruktur des Marxschen Wissens habe ich angedeutet: Es ist ein Kompositum aus emanzipierender und verdinglichender Theorie. 1 Verdinglichung zeichnet jedes Wissen aus, das Herrschaft über die Dinge anstrebt. In diesem Sinn war das Marxsche Wissen von vornherein Herrschaftswissen. Lange bevor der Marxismus theoretisch oder
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