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Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Mein Frankreich (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Peter Sloterdijk
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bezeugt, wie der scharfe und der tiefe Sinn vereint sein konnten. Zusammen mit Thomas Hobbes, mit Jean Baptiste Racine, mit John Milton steht Pascal als dunkle, von Bedenken zerklüftete Portalfigur am Eingang zur modernen Welt. Die Schatten seiner Nachdenklichkeit hatten Zeit, über die Nachgeborenen zu fallen. Seine Paradoxe haben der französischen Literatur bis in die Gegenwart ihr Zeichen aufgeprägt; wenn noch Sartre darauf beharrte, sich zu mißfallen, um sich vom eigenen trägen Sosein loszureißen, oder wenn Michel Leiris sich zu dem Glück bekannte, sein Unglück auszusprechen, so bewegen sich solche Äußerungen und Haltungen in einem Raum, den Pascals generöse Dialektik mitgeschaffen hat. Wäre die Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte ein Bericht von den Konjunkturen des Absurden: Pascals Platz in ihr wäre für immer gesichert. Er ist der Erste unter den philosophischen Sekretären der modernen Verzweiflung.

Mme de Warens
    Mme de Warens hielt sich in Les Charmettes bei Chambéry ab 1737 neben dem jungen Rousseau einen zweiten Liebhaber, einen gewissen Wintzenried, den die Literatur sehr zu Recht als ihr Fucktotum bezeichnet. Man könnte sich fragen, wieso Rousseaus Paranoia nicht schon während seiner unfreiwilligen Beteiligung an dieser ménage à trois zum Ausbruch gelangte. Vermutlich hat der freimütige Umgang der Dame mit der prekären Situation bewirkt, daß Rousseau sich nur zurückgesetzt, nicht hintergangen fühlte. Zudem war er zu jener Zeit noch ein Niemand, und Niemande sind vor Verfolgung besser geschützt als etablierte Persönlichkeiten. Rousseau mußte ein berühmter Jemand werden, um wahnsinnig werden zu können.
    Ob es eine altersbedingte Abrüstung von Aversionen ist oder eine Wirkung meiner wiederholten Lektüre der Rêveries , deren listige Genialität sich nur nach und nach erschließt: ich beobachte jedenfalls, wie der Anti-Rousseau-Affekt bei mir sich allmählich abschwächt. Obwohl es keinen Grund gibt, die Reserven hinsichtlich seiner Person und die Anklagen gegen seine fatalen Wirkungen zu widerrufen, erscheint er als Autor heute weniger abstoßend als früher, und wäre es auch nur, weil ich mit schwindendem Widerwillen zugebe, daß Kant und Goethe, die beide Rousseau verehrten, unmöglich ganz ins Leere gegriffen haben können. An Rousseau ist Goethe aufgegangen, wie ein Schriftsteller zu einer höheren Gewalt werden kann.

Voltaire
Die Prinzessin von Babylon
    Lese über dem Atlantik Voltaires kleinen Roman Die Prinzessin von Babylon von 1768. Der Ansatz des Erzählers ist alles andere als romantisch, wenn er auch den Helden seiner Geschichte in einer von sechs Einhörnern gezogenen Kutsche reisen läßt. Das Märchengenre kommt der philosophischen Satire entgegen. Bei einem Buch dieser Art kann man den Rat befolgen, irgendwo in der Mitte zu beginnen, da die Handlung hier wie anderswo zumeist für das unintelligente Element der Literatur steht.
    Hübsch ist die Rom-Satire, in der sich der Erzähler darüber mokiert, wie der Papst mit zwei Fingern die Stadt und den Erdkreis umfassen will und wie die vatikanischen Würdenträger den hübschen Jüngling Amazon unter che-bel-fanciullo-Rufen mit den Augen verzehren – bis er zuletzt die schwülen Herren in Violett zum Fenster hinauswirft. So schnell er kann, reist der Junge aus der seltsamen Stadt ab, wo man dem Papst die Füße küssen soll, »als ob er die Wange am Fuß hätte«.
    Frappierend, mit welcher Bedenkenlosigkeit Voltaire den klugen Despoten seiner Zeit schmeichelt, der Zarin Katharina, Friedrich dem Großen, dem Kaiser von China Chi-Au Long, 1737-1796, bei dem er das Prinzip der Meritokratie entdeckt haben will.

Alexis de Tocqueville
L’Ancien régime et la révolution
    Tocqueville gab mit L’Ancien régime et la révolution , 1856, den Anstoß zu einer großräumigen Betrachtung, in der die Französische Revolution keinen absoluten Bruch, geschweige denn einen Ursprung bedeutete, ausgenommen den des egalitären Mythos. Vielmehr wäre sie eine Episode in einem längeren Prozeß gewesen, der schon bei Richelieu und Louis XIV . Kontur gewonnen hatte: Dieser zielte auf die Herausbildung eines modernen Verwaltungsstaats, zu dessen wohlverstandenem Funktionieren eine bürgerliche, in Maßen demokratische Gesellschaft gehören sollte. Folglich lag die Revolution auf der Linie des besseren Ancien régime, genauer der Herrschaft der großen Kardinäle und Louis’ Quatorze.
    An Ludwig XVI . bleibt der Vorwurf
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