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Mein erfundenes Land

Mein erfundenes Land

Titel: Mein erfundenes Land
Autoren: Isabel Allende
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naive und vorsichtige Fragen und druckten dann meine Antworten nicht. Die Diktatur hatte ihr möglichstes getan, die jüngste Vergangenheit und den Namen Salvador Allendes aus dem Gedächtnis des Landes zu löschen. Als ich wieder im Flugzeug saß und die Bucht von San Francisco unter mir auftauchte, seufzte ich müde und sagte, ohne nachzudenken: Endlich wieder zu Hause. Es war das erstemal, seit ich Chile 1975 verlassen hatte, daß ich mich »zu Hause« fühlte.
    Ich weiß nicht, ob mein Zuhause der Ort ist, an dem ich lebe, oder ob es einfach Willie ist. Wir sind seit vielen Jahren zusammen, und mir scheint, er ist die einzige Gegend, in die ich gehöre, in der ich nicht fremd bin. Gemeinsam haben wir viele Hochs und Tiefs erlebt, große Erfolge und große Verluste. Am schwersten hat uns die Tragödie unserer Töchtergetroffen; innerhalb nur eines Jahres starb Jennifer an einer Überdosis und Paula an Porphyrie, einer seltenen genetisch bedingten Krankheit, die sie zunächst in ein langes Koma stürzte und ihr Leben schließlich beendete. Willie und ich sind stark und sturköpfig, wir taten uns schwer, einzugestehen, daß es uns das Herz gebrochen hatte. Zeit und manche Therapiesitzung waren nötig, bis wir uns schließlich in den Arm nehmen und miteinander weinen konnten. Die Trauer war eine lange Reise in die Hölle, aus der ich dank ihm und dem Schreiben herausfand.
    Auf der Suche nach Inspiration reiste ich 1994 erneut nach Chile, und seither war ich jedes Jahr dort. Ich fand meine Landsleute gelöster vor und die Demokratie etwas gefestigt, aber weiter beeinflußt von der Präsenz mächtiger Militärs und etlicher Senatoren auf Lebenszeit, die Pinochet ernannt hatte, um den Kongreß zu kontrollieren. In einem schwierigen Spagat bemühte sich die Regierung um einen Ausgleich der politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Ich besuchte die Armensiedlungen, in denen die Menschen früher kämpferisch und gut organisiert gewesen waren. Die fortschrittlich denkenden Priester und Nonnen, die all die Jahre in den Siedlungen gelebt hatten, berichteten mir, das Elend sei das gleiche geblieben, doch die Solidarität sei verlorengegangen und zum Alkohol, der häuslichen Gewalt und der Arbeitslosigkeit kämen jetzt Kriminalität und Drogenmißbrauch, das gravierendste Problem unter den Jugendlichen.
    Die Losung der Chilenen lautete, die Stimmen der Vergangenheit zum Verstummen zu bringen, für die Zukunft zu arbeiten und das Militär keinesfalls zu provozieren. Verglichen mit dem übrigen Lateinamerika erlebte Chile eine Zeit politischer und wirtschaftlicher Stabilität; allerdings gab es noch immer fünf Millionen Menschen, die unter der Armutsgrenze lebten. Außer den Opfern der Repression, deren Familien und einigen Menschenrechtsorganisationen sprach niemand laut über »Verschwundene« oder »Folter«.Das änderte sich, als Pinochet in London verhaftet wurde, wohin er gereist war, um sich ärztlich untersuchen zu lassen und seine Kommission für ein Waffengeschäft einzustreichen. Ein spanischer Richter beschuldigte ihn des Mordes an spanischen Staatsangehörigen und verlangte seine Auslieferung. Der General, der noch immer auf die bedingungslose Unterstützung der Streitkräfte zählte, hatte fünfundzwanzig Jahre im Kreis der Schmeichler verbracht, die sich immer um die Macht scharen, und obgleich er vor dieser Reise gewarnt worden war, hatte er auf seine Immunität vertraut. Als die Briten ihn verhafteten, muß er genauso aus allen Wolken gefallen sein wie der Rest der Chilenen, die sich an den Gedanken gewöhnt hatten, er sei unantastbar. Ich hielt mich während dieser Ereignisse zufällig in Santiago auf und durfte erleben, wie binnen einer Woche dieser dicke Teppich aus Schweigen, unter den man alles gekehrt hatte, fadenscheinig wurde. In den ersten Tagen gab es wütende Demonstrationen von Pinochet-Anhängern, die England sogar mit Krieg drohten oder damit, ein Militärkommando zur Befreiung des Gefangenen zu entsenden. Die verängstigte Presse sprach von einem Affront gegen den Hochwürdigsten Senator auf Lebenszeit und gegen die Ehre und Souveränität des Landes; aber eine Woche später ging fast niemand mehr für Pinochet auf die Straße, das Militär blieb stumm, und die Medien schlugen einen anderen Ton an und sprachen jetzt von dem »in London verhafteten Ex-Diktator«. Niemand glaubte, daß England Pinochet ausliefern und man ihm in Spanien der Prozeß machen werde, und tatsächlich geschah das ja auch
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