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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Autoren: Bill Bryson
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Plastik, das er laut beiliegender Anleitung über den Bildschirm seines Fernsehgeräts kleben und dann das Bild dadurch betrachten sollte.
    Da mein Bruder das Geld ausgegeben hatte, weigerte er sich zuzugeben, dass das Ganze ein wenig enttäuschend war. Wenn sich ein menschliches Gesicht in den rötlichen Teil des Bildschirms schob und ein Stück Rasen zufällig kurz mit dem grünen übereinstimmte, sprang er triumphierend auf und rief: »Seht ihr! Seht ihr! So sieht es im Farbfernsehen mal aus. Vorläufig ist das ja noch alles im Experimentierstadium.«
    In unser Viertel kam das Farbfernsehen übrigens erst am Ende des Jahrzehnts, als Mr. Kiessler auf der St John’s Road für viel Geld einen enormen RCA Victor Consolette kaufte, das Prunkstück der RCA-Produktpalette. Mindestens zwei Jahre lang war Mr. Kiesslers Farbfernseher, soweit bekannt, der einzige, der sich in Privatbesitz befand, und eine fantastische Neuheit. Samstagsabends stahlen sich die Kinder aus der weiteren und näheren Umgebung auf seinen Hof und stellten sich in seine Blumenbeete, um durch das Doppelfenster hinter seinem Sofa eine Sendung zu sehen, die My Living Doll hieß. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Mr. Kiessler nicht ahnte, dass zwei Dutzend Kinder aller Altersstufen und Größen zusammen mit ihm fernsahen. Sonst hätte er nämlich nicht jedes Mal, wenn Julie Newmar auf der Bildfläche erschien, derart begeistert an sich herumgerubbelt. Ich hielt es für isometrisches Muskeltraining.

    Bald vierzig Jahre lang, von 1945 bis zu seiner Pensionierung, ging mein Vater jedes Jahr für den Register zu den Spielen der Baseball World Series. Mit unermesslich weitem Abstand war das der Höhepunkt seines Arbeitsjahres. Er durfte sich nicht nur zwei Wochen lang in den kosmopolitischsten, aufregendsten Städten auf Spesen einen tollen Lenz machen – und von Des Moines aus betrachtet, waren alle Städte kosmopolitisch und aufregend –, sondern er sah auch mit eigenen Augen viele der denkwürdigsten Augenblicke in der Geschichte des Baseballs. Al Gionfriddos einhändigen Wundercatch eines Linedrives von Joe DiMaggio, Don Larsens Glanzleistungen im Jahre 1956, Bill Mazeroskis Homerun, der 1960 zum Sieg in der Series führte. Ich weiß, Ihnen bedeutet das gar nichts – wahrscheinlich bedeutet es heute den meisten Menschen nichts –, doch es waren geradezu ekstatische Momente, und eine ganze Nation erlebte sie gemeinsam.
    Damals wurden die World-Series-Spiele tagsüber ausgetragen. Wenn man also eins sehen wollte, musste man die Schule schwänzen oder sich eine praktische Bronchitis zulegen. (»Oje, Mum, der Lehrer hat gesagt, die TB ist wieder auf dem Vormarsch.«) Überall, wo ein Radio an war oder ein Fernseher lief, sammelten sich Menschentrauben. Irgendwas von einem World-Series-Spiel zu sehen oder zu hören, und sei es nur ein halbes Inning in der Mittagspause, wurde zum verbotenen Nervenkitzel. Und war man dabei, wenn etwas historisch Bedeutsames passierte, vergaß man das seiner Lebtage nicht. Mein Vater hatte ein unheimliches Talent, in solchen Momenten dabei zu sein – und ganz besonders in dem (in so mancher Hinsicht) epochemachenden Jahr 1951, als unsere Geschichte beginnt.
    In der National League (einer der beiden Hauptligen im Profibaseball; die andere war die American League) steuerten die Brooklyn Dodgers auf den mühelosen Gewinn der Meisterschaft zu, da regten sich Mitte August ihre Rivalen von der anderen Seite der Stadt, die New York Giants, und setzten zu einer höchst unwahrscheinlichen Aufholjagd an. Plötzlich gelang ihnen alles. Sie gewannen 37 der 44 noch ausstehenden Spiele, und der einst unanfechtbare Vorsprung der Dodgers schmolz scheinbar schicksalhaft dahin. Mitte September redeten die Leute über nichts anderes mehr als über die Frage, ob die Dodgers sich oben halten würden. Manch einer fiel vor Hitze und Aufregung tot um. Die beiden Teams beendeten die Saison in absolutem Gleichstand. In aller Eile wurde eine Playoff-Serie von drei Spielen angesetzt, um denjenigen zu ermitteln, der gegen den Meister der American League in der World Series spielen sollte. Der Register , wie fast alle vom Geschehen weit entfernten Zeitungen, schickte keinen Reporter zu den kurzfristig angesetzten Playoff-Spielen, sondern verließ sich für seine Berichterstattung bis zum Beginn der World Series auf die Nachrichtendienste.
    Die Playoffs bescherten der Nation zusätzliche drei Tage exquisiter Folter. Beide Mannschaften gewannen jeweils
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