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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge
Autoren: Keren David
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und schaukle langsam vor und zurück, die Faust auf den Mund gedrückt.
    Gran setzt sich neben mich und sagt leise: »Ich weiß, dass es schrecklich ist, Schatz, aber es ist wichtig, dass du dir das ansiehst. Deswegen sind wir hier. Genau dagegen wehren wir uns.«
    Dann wird der Insasse einer Jugendstrafanstalt interviewt, ein junger Typ, groß und dunkel, mit einer Hautfarbe |373| wie Frappuccino, wenn man umgerührt hat. Erst denke ich sogar, es ist Arron, aber das ist natürlich Unsinn. Er war ja noch nicht vor Gericht, noch hat ihn niemand verurteilt.
    Der Typ im Jugendknast wurde verurteilt. »Ich hatte ein Messer dabei, weil mein Bruder mir eins gegeben hat«, sagt er. »Er meinte, ich brauch es zu meinem Schutz.« Ich werfe meiner Gran einen kurzen Blick zu. Sie schüttelt den Kopf.
    »Der Junge, auf den du eingestochen hast   – hat der dich mit einem Messer bedroht?«, fragt der Interviewer. Der Typ schüttelt langsam den Kopf. »Ich war besoffen, klar? Er hat mich nicht respektiert, da hab ich ihn aufgeschlitzt.« Er schaut auf seine Hand, als könnte er nicht glauben, was er getan hat.
    Er muss vier Jahre wegen schwerer Körperverletzung absitzen. Das könnte ich sein. Das müsste eigentlich ich sein. Das könnte ich sein, wenn die Polizei irgendwann die Wahrheit rausfindet.
    Dann kommt noch ein Politiker. Ein ganz piekfeiner. Der, den meine Mum gut findet   – er redet immer so vernünftig, sagt sie. Man sieht seinem glatten, selbstsicheren Gesicht an, dass er ein schönes, leichtes Leben hat. Er brauchte sich garantiert nie Gedanken darüber zu machen, ob er auf dem Schulweg überfallen wird. Er lebt nicht in einer Welt, in der die Angst regiert.
    Er meint, jeder, der ein Messer bei sich trägt, gehört eingesperrt. Ich versuche mir vorzustellen, wie viel Gefängnisse man dann bräuchte   – Hunderte und Aberhunderte |374| –, und muss laut lachen. Gran sieht mich streng an und ich bin wieder still.
    Die Sendung ist vorbei und Gran macht den Fernseher aus. Ich verstecke mein Gesicht hinter meiner Teetasse und sie sagt: »Man sollte den Wehrdienst wieder einführen.«
    »Wieso das denn? Da lernen die Leute doch erst recht, wie man kämpft.«
    »Schon, aber gleichzeitig bringt man den Jugendlichen Disziplin bei. Sie lernen was Ordentliches. Erfahren, was Verantwortung bedeutet.« Sie tätschelt mir die Schulter. »Ich bin so froh, dass du keiner von denen bist, Ty-Schatz.« Ich verkrieche mich wieder hinter meiner Tasse.
    »Gefällt’s dir hier eigentlich, Gran?«
    Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin Londonerin, Schatz. Ich werde mich nie an so ein ruhiges Städtchen gewöhnen. Ich bete zu Gott, dass die Polizei eine Möglichkeit findet, dass wir eines Tages wieder heimkönnen. Zum Urlaub machen ist es hier ja ganz nett, aber doch nicht, um hier zu leben.«
    Dann schmunzelt sie. »Aber ich bin in die Kirche gleich um die Ecke gegangen und habe mich dem Priester vorgestellt   – ein sehr netter Mann, kommt aus Walthamstow und sieht ein bisschen aus wie   … wie heißt er noch gleich   … Al Pacino   … und er meinte, dass sie sonntags immer eine nette Gemeinde beisammen haben. Du hast wohl keine Lust, mal mitzukommen, oder? Das würde dir bestimmt guttun.«
    |375| »Äh   … eher nicht. Ich habe jede Menge Hausaufgaben«, sage ich. »Eigentlich müsste ich jetzt schon dransitzen.«
    Ich gehe hoch in unsere leere Wohnung. Mum hat eine Teilzeitstelle, drei Abende als Aushilfe in einer Kneipe hier im Ort. Plötzlich stelle ich fest, dass ich tatsächlich einen Haufen Hausaufgaben habe, und für das eine Referat muss ich etwas recherchieren, weshalb ich beschließe, noch rasch ins Internet-Café zu gehen. Über Jakes Erdkundereferat gelingt es mir tatsächlich, alle Gedanken an Messer und Knast und Rio und die vielen anderen Gesichter zu verdrängen   – zumindest sind sie nicht die ganze Zeit präsent, auch wenn ich weiß, dass sie sich nur vorübergehend versteckt halten.
    Unterwegs komme ich an Grans Kirche vorbei. Wieso wird man Priester, wenn man wie Al Pacino aussieht? Eine verrückte Sekunde lang überlege ich, reinzugehen, mich in den Beichtstuhl zu setzen und dem dunklen Eisengitter die ganze Geschichte zu erzählen. Mal sehen, was Pater Pacino sich als Buße ausdenkt und ob es stimmt, dass Geistliche auch über die finstersten Geheimnisse Schweigen bewahren müssen.
    Aber das würde Stunden dauern, weil ich schon ewig nicht mehr zur Beichte war. Außerdem müsste ich ihm von Ashley
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