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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge
Autoren: Keren David
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mit »Ja, Sir« und »Nein, Sir« und tonnenweise Hausaufgaben. Mum wird vor Freude im Dreieck springen.
    Es ist eine Jungenschule. Anscheinend sind Doug und Maureen der Meinung, dass ich von Mädchen ferngehalten werden soll. Mir gefällt das nicht, es kommt mir unnatürlich vor. Man kann doch nicht unter lauter Frauen aufwachsen und dann ganz einfach den Schalter umlegen und plötzlich ist alles um einen herum männlich. Ich kann das jedenfalls nicht und fühle mich niedergeschlagen und lustlos. Hoffentlich wird es hier nicht wieder genauso wie in St. Saviours.
    Ein Junge namens Nigel soll mir alles zeigen und dafür sorgen, dass ich zur richtigen Zeit im richtigen Klassenzimmer aufschlage, was er auch macht, aber eigentlich interessiert er sich kein Stück für mich. In der Pause unterhält er sich mit seinen Freunden und ich stehe daneben, bis er so weit ist, mich zu meiner Geschichtsstunde zu bringen. Mittags habe ich endgültig die Schnauze voll |360| von dem Typen und sage ihm, dass ich allein klarkomme. Dann spaziere ich ein bisschen rum. Ich habe keinen Hunger und warte nur darauf, dass der Tag zu Ende geht. Dann sehe ich ein Schild mit der Aufschrift »Bibliothek«.
    Ich öffne die Tür einen Spalt und erblicke einen Raum mit Hunderten von Büchern, ungefähr doppelt so groß wie die Bibliothek in St. Saviours (in Parkview gab es, glaube ich, gar keine). Am spannendsten sind allerdings die Computer.
    »Hallo!«, begrüßt mich eine Frau mit unglaublichen rotblonden Locken. »Am ersten Schultag kommt sonst eigentlich niemand hier rein.«
    »Dürfte ich bitte mal an einen Computer?«, frage ich. »Haben Sie hier Internet?«
    Sie sagt Ja und ich setze mich hin und logge mich in meinen Mailaccount ein, den Claire mir eingerichtet hat.
    Ich habe zwanzig Nachrichten. Zwanzig! Alle von Claire. Sie schreibt mir seit Wochen, obwohl ich ihr nie geantwortet habe. Ich kann’s kaum glauben. Ich bin glücklich und traurig und aufgeregt und ängstlich zugleich.
    Die ersten Mails sind ziemlich kurz:
Ruf mich an, schreib mir, wo steckst du? Wir müssen reden, was ist passiert? Geht

s dir gut? Ich mach mir Sorgen um dich.
So Zeug eben. Sie schreibt:
     
    Ich habe erfahren, was Ashley über dich gesagt hat, und habe unserem Klassenlehrer gesagt, dass sie mich die ganze
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Zeit fertiggemacht hat und dass du immer nur nett zu mir warst und mich unterstützt hast. Ich weiß schon, dass dir das alles nichts mehr bringt, aber Ashley hat jetzt auch eine eigene Akte. Ich geh erst im neuen Schuljahr wieder in die Schule, dann komme ich wahrscheinlich in eine neue Klasse. Schade, dass du nicht mehr hier bist.
     
    Dann schreibt sie vor ungefähr einem Monat:
     
    Ich weiß endlich, was aus dir geworden ist. Eine nette Frau namens Maureen hat mich besucht. Ich weiß nicht, wie sie es Mum erklärt hat, ich glaube, sie hat gesagt, sie sei einfach nur eine Bekannte, aber mir hat sie verraten, wer sie wirklich ist und woher sie dich kennt. Sie hat mir erzählt, warum du umziehen musstest, und dass es dir gut geht. Ich hatte schon echt Angst um dich.
    Ich schreibe dir einfach weiter, vielleicht antwortest du ja eines Tages. Kannst mich ja mal überraschen! Ich bin übrigens nicht sauer auf dich. Warum haben sich die ganzen Leute auch in unsere Angelegenheiten eingemischt? Ich weiß schon, dass sie mir nur helfen wollen, aber mir wär’s lieber, sie hätten uns in Ruhe gelassen. Ich liebe dich.
    Claire
     
    Und dann schreibt sie eine Mail nach der anderen, erzählt von ihrem Leben, was alles anders geworden ist und dass ihre Mutter sie andauernd fragt, wie es ihr geht, dass sie sie zum Einkaufen mitnimmt und so weiter.
    Über
eine
Mail muss ich eine Weile nachdenken:
     
    |362|
Ich habe drüber nachgedacht, was deine Mutter damals gesagt hat, weil du mir wehgetan hattest, und du sollst wissen, dass es mir sogar damals überhaupt nichts ausgemacht hat. Ich hab nur dran gedacht, dass du mich tatsächlich anfasst, dass jemand wie du mich überhaupt bemerkt. Dass es wehgetan hat, war echt Nebensache. Vergiss das Ganze, du brauchst deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben.
     
    Als ich das lese, geht es mir richtig mies, denn mir wird klar, wie verkorkst Claire in vielerlei Hinsicht ist, und ich verstehe nun besser, was Mum damals gemeint hat. Schade nur, dass Claire und ich das nicht gemeinsam klären konnten. Claire braucht ganz viel Liebe und Freundschaft und ich hätte ihr das alles geben können.
    Die letzte Mail ist von
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