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Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer
Autoren: Ann Eriksson
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einem Monat. Er hatte den Anruf vom Farmhaus aus getätigt nach einem Tag, an dem er Zäune ausgebessert hatte, nach einer warmen Dusche, bekleidet mit einem T-Shirt und bequemen Jeans, ein Bier in der Hand, unmittelbar vor dem Abendessen. Eine kurze Bootsfahrt. Heute fühlten sich acht Kilometer wie hundert an, und eine Stunde erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen. Während einer der seltenen Urlaubsreisen ins Qu’Appelle Valley mit Onkel Pat und Tante Gladys hatte Brent aus altem Holz ein Floß gebaut, ein zerrissenes Laken hatte als Segel gedient. Er hatte versucht, Trevor dazu zu überreden, den Bootsmann zu spielen, doch war das Abenteuer mit Brents höhnischer Bemerkung »Babylein Trevor hat Angst vorm Wasser« geendet, während Trevor jenseits des Flussufers in einem Pappelhain laut vor sich hin geweint hatte.
    Die ruhige Stimme von Constance machte der Schmach ein Ende. Was wird aus der Seele, Trevor, was wird aus der Seele?
    Lief sein Leben wie ein Spielfilm vor seinen Augen ab, weil dies hier der Anfang vom Ende war? Würde er dieses Leben verlassen als Futter für die Fische? Er konnte nicht schwimmen. Man lebt, und man stirbt. Er hatte das gesagt, nicht wahr? Zu Constance. Was, wenn da doch mehr war? Eine Seele. Ein Leben nach dem Tod. Würde er noch einmal eine Chance bekommen?
    Eine Gefälligkeit für eine Freundin.
    Als er die Augen öffnete, konnte Trevor kein Land mehr sehen.
    Vor ihnen erstreckte sich über dem Horizont ein breites, dichtes Band aus Grau, zwanzig Stockwerke hoch.
    »Was ist das?«, brüllte Trevor Baxter so laut zu, dass die Worte den Lärm der Motoren übertönten. »Das da vor uns.«
    »Nebelbank«, schrie Baxter zurück.
    »Da können wir aber doch nicht reinfahren, oder etwa doch?«, rief Trevor.
    »Kein Problem. GPS. Sie wollen doch nach La Perousse, richtig?«
    Trevor befürchtete, dass seine Gesichtsfarbe identisch war mit der Farbe der Nebelbank. Er nickte, und seine Fingerknöchel waren weiß, so fest umklammerte er mit den Händen das Halteseil, das über dem Rand des Schlauchboots verlief.
    Sie schipperten geradewegs in die Nebelwand hinein, als steuerten sie auf den Außenrand der Welt zu. Trevor hatte Angst, das Boot würde gleich über die Fallkante stürzen wie ein Baumstamm über einen Wasserfall. Er fröstelte und drückte durch die Lagen des Uberlebensanzugs die Vitamindose an sich. Am liebsten hätte er sich festgebunden an dem Halteseil. Aber die Vorstellung, was passieren würde, falls das Boot umkippte, reichte aus, um ihn davon abzuhalten.
    Baxter reduzierte die Geschwindigkeit des Schlauchboots und drückte auf ein paar Schalter. Das Boot stürzte nicht über die Kante; stattdessen verlor die Welt plötzlich sämtliche Farbe. Da waren nur noch Grautöne: graugrünes Wasser, schwarzgrauer Himmel, metallgraues Boot. Fetzen von Nebelschwaden wehten zwischen den beiden Männern in der Luft. Eine schwere Stille dämpfte die Geräusche der Motoren. Trevor drehte sich um und stellte fest, dass der Dunst Baxter verschluckt hatte: Sein Anzug und das Armaturenbrett mit den Instrumenten waren verschwunden. Trevor tastete sich mit dem Fuß auf dem Boden vor, um die Sitzbank zu finden, die ebenfalls verschwunden war. Er war allein. Einsamer als in der Nacht, in der seine Eltern ums Leben gekommen waren, denn da hatte er Brent gehabt, Verwandte, Nachbarn. Heute war sein einziger Gefährte ein Fremder, den der Dunst verschluckt hatte.
    »Brent?« Seine dünne Stimme verhallte in der Leere.
    »Alles ist in Ordnung, mein lieber Junge«, sprach Constance mit beruhigender Stimme. »Jeder hat eine Großmutter.«
    Trevor starrte intensiv in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, versuchte, durch die graue Wand hindurchzusehen. »Constance?«
    »Kein Grund zur Sorge, Mister Wallace. Es ist nur Nebel. Nur heiße ich Baxter, nicht Brent. Wir haben sämtliche Instrumente, Radar, GPS. Ich habe das hier schon hundertmal gemacht.« Die Zuversicht des Mannes senkte sich auf Trevor herab wie Engelsgesang aus den Himmeln. »Wir sind über dem Riff. Ich schalte die Motoren jetzt für einen Moment ab. Wenn wir Glück haben, sehen wir vielleicht Wale. Schweinswale. Ich habe gehört, es sollen auch Buckelwale in der Gegend sein.«
    Der verwirrte Trevor bewegte den Kopf langsam vor und zurück. Baxter, jawohl, Baxter. Sie waren nur zu zweit in diesem Boot, Baxter und er selbst, Trevor Wallace. Hatte Baxter gesagt, dass sie vielleicht Wale sehen würden?
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