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Meerhexe

Meerhexe

Titel: Meerhexe
Autoren: Irma Krauss
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aus.
    Ulrich ist kein Supertenor wie Kenneth Smith. Trotzdem sind mir die Tränen gekommen. Ich musste mit meinem Taschentuch so tun, als hätte ich eine plötzliche Sommergrippe. Es fiel aber nicht weiter auf. Denn die Jungs prusteten los und tauchten wieder in ihre Stühle ab.
    Diese Vollidioten!
    Das Lied war allerdings keine kluge Wahl von Ulrich. Auch die Mädchen hatten ein Problem damit. Natürlich! Wenn man nicht daran gewöhnt war, dass im Wohnzimmer ein Tenor übt
    Ulrich merkte es und brach in der zweiten Strophe ab. »Ich muss euch erst langsam mit Kunstliedern vertraut machen«, murmelte er. Danach erzählte er uns, der Franzl sei so arm gewesen, dass er sich kein eigenes Klavier leisten konnte. Bei Freunden hat er gespielt und sich durchfüttern lassen. Außerdem hat er nie seine Brille abgenommen, nicht mal im Bett.
    Hier kicherte die ganze Klasse los, ich auch. Mit der Brille schlafen, das war ja wirklich verschroben!
    Einer von den Jungen hinter mir flüsterte, jetzt wisse er, warum das arme Schwein kein Weib abgekriegt hat.
    Ulrich tat, als hätte er es nicht gehört. Er wiederholte das Klavierstück von vorher, und mir fiel auf, dass aus einem witzigen Stück auf einmal ein zorniges wurde. Es kam auch nicht mehr so gut an wie zu Beginn der Stunde, die Überraschung war vorbei. Die Jungen blieben abgetaucht und die Mädchen hörten höflich zu.
    In der Sekunde wusste ich es. Nämlich dass ich die Einzige bin, die Ulrich liebt und versteht. Leider hat er keine Ahnung davon. Es ist sogar möglich, dass er meinen Anfall von Sommergrippe für albernes Gepruste gehalten und keinen Unterschied zwischen mir und den anderen Prustern bemerkt hat.
    Dieser Gedanke peinigt mich noch während des ganzen Vormittags. Trotzdem male ich mir aus, wie Ulrich eines Tages wie durch ein Wunder darauf kommt, dass ich es bin, die ihn liebt und versteht, die ihn immer geliebt und verstanden hat, schon damals in der siebten Klasse, in der Schubertstunde … Doch dann beunruhigt mich die Erinnerung an mein Prusten wieder und versaut mir das Vergnügen an meinem Tagtraum.
    Geknickt gehe ich heim und singe dabei »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus« vor mich hin. Wahrscheinlich bin ich genauso ein armes Schwein wie der beklagenswerte Franzl Schubert, nur ohne Brille. Ich wünsche mir schon fast eine Brille, die würde ich dann auch zum Schlafen aufbehalten. Denn schließlich, wen interessiert es schon, wie ich aussehe? Noch dazu im Bett. Keiner, fürchte ich, wird sich jemals dafür interessieren, wie ich im Bett aussehe.
    Ich mache noch einen Umweg über den Park und singe das Lied ziemlich laut, weil mich sowieso niemand hört. Dabei merke ich wieder mal, dass Singen einfach toll ist. Nur kann ich es nicht ungetrübt genießen. In meinem Kopf vermischen sich nämlich gerade sämtliche Personen: Ulrich und Kenneth und Franz Schubert und Torsten. Bei dreien von ihnen, denke ich düster, hab ich garantiert keine Chance. Und der Franzl ist schon tot.
    Was nützt mir da meine gute Stimme?

    Meine Mutter ist seit einer Woche auf Konzertreise in Frankreich und hat es nicht für nötig gehalten, uns ihren Zeitplan hierzulassen. Wo die Konzerte sind, wo sie jeweils wohnt, die entsprechenden Telefonnummern, das alles.
    Mein Vater ist empört darüber, er versteht es nicht. »Hier könnte Gott-weiß-was passieren«, sagt er alle zehn Minuten, »und sie ist nicht mal zu erreichen!«
    Am Mittwoch hat sie ganz kurz von irgendwo angerufen und sich nur erkundigt, ob alles in Ordnung ist. Sie sei zwar schon bald wieder zu Hause, aber man könne ja nie wissen.
    »Allerdings«, hat mein Vater gefaucht, hinterher, denn während des Telefonats ist er nicht dazugekommen, das war zu schnell vorbei.
    Jetzt hängt er jeden Abend rum und ist deprimiert. Er mag nicht mit mir fernsehen und kontrolliert nicht mal, was ich gucke, sondern sitzt am Flügel und spielt traurige Sachen. Keine Schubertlieder wie meine Mutter und Ken, was anderes eben. Ich wusste gar nicht, dass es so viele traurige Stücke gibt.
    Am Freitagabend schlendere ich hinüber ins Wohnzimmer und erzähle meinem Vater von dem witzigen Klavierstück, das uns Ulrich Falkenhauser in der Schule vorgespielt hat.
    »Kann ich das mal von dir hören?«, frage ich listig. Vielleicht ist es geeignet, ihn aufzuheitern.
    »Ausgerechnet Schubert«, murmelt er, als wäre es eine unerträgliche Zumutung, meine Bitte zu erfüllen. Er schüttelt den Kopf und hängt schon wieder trübe
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