Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meereskuss

Meereskuss

Titel: Meereskuss
Autoren: Virginia Kantra
Vom Netzwerk:
Schaf?
Beides hätte seinen Zwecken gedient.
    Schweigend gingen sie unter den wachsenden Schatten der Bäume nebeneinander her. Die Luft war von Feuchtigkeit und dem Duft der Fichten erfüllt. Der Nebel ließ die schwarze Straße glänzen und sammelte sich wie ein Schleier aus Perlen auf dem hellen Haar des Mädchens. Sie machte lange Schritte wie ein Mann; die Arme hatte sie fest vor dem Oberkörper verschränkt. Sie sah ihn nicht an.
    Conn hatte gedacht, dass sie schüchtern war. Er überlegte nun, ob sie nicht viel eher unter einem Schutzzauber stand. In ihr war eine Stille, die sich nicht ganz natürlich anfühlte, eine Wachsamkeit – das erkannte er –, die fast an die Selbstdisziplin grenzte, die er sich aufzuerlegen gelernt hatte, als er an die Macht gekommen war.
    Doch das war absurd. Sie war zu jung, um über eine derartige Selbstbeherrschung zu verfügen, und zu sehr Mensch, um sie zu brauchen.
    Er wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte.
    Ihr Bruder Dylan war ein Selkie. Ihr Bruder Caleb hatte eine Selkie geheiratet. Es schien für Conn jedoch auf der Hand zu liegen, dass ihre Familie sie nicht eingeweiht hatte. Warum sollten sie auch? Die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den Kindern der See und den Kindern des Feuers hatte nichts mit ihr zu tun.
    Und doch hatte die Vision ihres Gesichtes ihn aus seinem Turm gezerrt und durch die halbe Welt gelockt. Er sah sie fast so an, als würde er es ihr übelnehmen.
    »Ich dachte, dass Sie erst später mit den anderen reden wollten. Zu Hause«, sagte sie zu ihren Füßen. Langen, schmalen Füßen, bemerkte er, und sie steckten in Schuhen, die einmal weiß gewesen sein mochten.
    »Das werde ich auch.« Er verschränkte die Hände auf seinem Rücken. »Und jetzt rede ich mit Ihnen.«
    Sie wandte ihm den Kopf zu. »Aber warum?«
    Eine solche Direktheit war unerwartet und irgendwie befremdlich.
    »Ich würde Sie gern näher kennenlernen«, sagte Conn vorsichtig.
    »Aber warum?«, wiederholte sie. Es ärgerte ihn.
    Conn war es nicht gewöhnt, sich für sein Verhalten zu rechtfertigen. Selbst seine Wächter stellten ihm keine Fragen. Er konnte ihr ja wohl kaum sagen, dass er herauszufinden versuchte, von welchem Nutzen oder Interesse sie möglicherweise für ihn sein könnte. »Ich bin doch sicher nicht der erste Mann, der Ihre Nähe sucht.«
    Sie lächelte schief. »Ja, ich muss sie mir alle mit einem Stock vom Leibe halten.«
    Er starrte sie an. Er musste sie nicht richtig verstanden haben. »Wie bitte?«
    Röte überschwemmte ihr schmales Gesicht. »Ich meine … Es ist schon eine ganze Weile her.«
    Ob sich das wohl zu seinem Vorteil nutzen ließ? Wollten Menschenfrauen Sex, vermissten sie Sex, so wie Selkies es taten?
    »Und wie lange ist eine ganze Weile?«
    Sie blinzelte. »Junge, Junge, Sie nehmen es aber ganz genau mit Ihrem Besser-Kennenlernen-Blödsinn, oder?«
    »Sie haben keinen Mann?«, drängte er weiter. »Und wie ist’s mit einem Verehrer?«
    »Sie meinen einen Freund?«
    Nannte man das so?
    »Ja.«
    Sie zog die Schultern hoch, sodass sie fast ihre Ohren bedeckten. »Nein.«
    Conn bemerkte, dass ihre Anspannung ein wenig nachließ. Die Ansprüche oder die Existenz eines Sexualpartners bedeuteten ihm nichts, waren ihr aber vielleicht nicht egal.
    Er war froh, dass sie nicht verheiratet war.
    Ihre Schuhe schlurften über die nasse, schwarze Straße. »Und was ist mit Ihnen?«, fragte sie.
    »Ich lebe allein«, antwortete er wahrheitsgemäß. Selkies paarten sich zwar, aber nur sehr wenige Paarungen überdauerten die Jahrhunderte.
    »Gibt es niemand Besonderen?«
    »Nicht seit einiger Zeit. Meine … äh … Arbeit lässt nicht viel Ablenkung zu.«
    »Was für eine Arbeit ist das denn?«
    »Sie stellen eine Menge Fragen.«
    Ein Lächeln erhellte ihr schmales Gesicht. »Ich arbeite mit fünf- bis siebenjährigen Kindern. Interesse zu zeigen ist Teil meiner Stellenbeschreibung.«
    Er starrte sie an. »Sie sind Lehrerin.«
    Er hatte sich einmal sehr bemüht, eine Lehrerin für die halbwüchsigen, halb verwilderten Welpen von Sanctuary zu rekrutieren. Aber nun gab es auf der Selkie-Insel keine Kinder mehr. Seit zwanzig Jahren nicht. Dylan war der Letzte gewesen.
    Conns Volk starb aus. Es war diesmal mehr als eine Lehrerin notwendig, um sie zu retten.
    »Haben Sie ein Problem mit Lehrerinnen?«
    »Ganz und gar nicht«, erwiderte er höflich. »Ich bewundere alle, die unterrichten können. Ich kenne einfach nur nicht viele.«
    »Sie müssen doch einige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher