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Max Weber (German Edition)

Max Weber (German Edition)

Titel: Max Weber (German Edition)
Autoren: Dirk Kaesler
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«Rentengütern» unter deutschen Ansiedlern einen starken deutschen Kleingrundbesitz zu schaffen, um auf diese Weise eine Konsolidierung des vor allem durch die anhaltende Abwanderung der ländlichen Arbeitskräfte und die Zuwanderung von polnischen Saisonarbeitern «bedrohten» deutschen Bevölkerungsanteils in den beiden preußischen Provinzen herbeizuführen.
    Der 1872/73 gegründete Verein für Socialpolitik, dessen Mitgliedschaft aus Professoren der Nationalökonomie, Politikern, Verwaltungsbeamten und Journalisten bestand, hatte sich zum Ziel gesetzt, die staatliche Sozialpolitik mit wissenschaftlichen Argumenten auf der Basis empirischer Erhebungen zu beeinflussen. Die häufig als «Kathedersozialisten» bezeichneten Wissenschaftler strebten, in den Worten ihres bekanntesten Repräsentanten, Gustav von Schmoller, das Ziel an, «auf der Grundlage der bestehenden Ordnung, die unteren Klassen soweit zu heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen». Der Verein hatte im September 1890 mit der Planung und Durchführung einer Enquête über Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland begonnen. Ein erster Fragebogen wurde im Dezember 1891 an 3180 Gutsbesitzer versandt, ein zweiter im Februar 1892 an 562 ausgewählte «Berichterstatter» für ganze landwirtschaftliche Bezirke – erneut Gutsbesitzer. Mithilfe dieser schriftlichen Befragung sollte Auskunft über die Lage der Landarbeiter im Deutschen Kaiserreich eingeholt werden. Und das nicht durch Befragung der Landarbeiter selbst, sondern durch schriftliche Auskünfte ihrer Arbeitgeber, der Gutsbesitzer! Es handelt sich also streng genommen weniger um eine Landarbeiter-Enquête als vielmehr um eine Gutsbesitzer-Enquête.
    Max Weber wurde nun beauftragt, jene insgesamt 2568 zurückgesandten Fragebögen – an deren Formulierung er keinen Anteil hatte – auszuwerten, die das ostelbische Deutschland betrafen, also Ost- und Westpreußen, Pommern, Posen, Schlesien, Brandenburg, Mecklenburg und Lauenburg. Unter erheblichem Zeitdruck – der Rücklauf der letzten Fragebögen erfolgte im Februar 1892, die Publikation des Berichts war für die Tagung im September des gleichen Jahres angesetzt –, stellte der 28-jährige Privatdozent die Ergebnisse seiner Arbeit termingerecht fertig. Webers wissenschaftliche und politische Bewertung dieser 891-seitigen Untersuchung zog sich ab da wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk.
    Trotz unzweifelhafter Mängel, vor allem vom Stand heutiger sozialwissenschaftlicher Methodologie aus geurteilt – so fehlten Weber vor allem die Kenntnisse der Wahrscheinlichkeits- und Stichprobentheorie –, stellte diese Arbeit eine wichtige Etappe in der Entwicklung sozialwissenschaftlicher Methoden und Techniken dar. Die Hauptfunktion der Studie sah Weber in der Korrektur mancher landläufiger Ansichten seiner Zeit, vor allem der, dass die Lage der Landarbeiter eine besonders erbärmliche sei, verglichen mit der angeblich wesentlich erfreulicheren Lage der Industriearbeiter. Trotz der hohen Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Erfolg des Gutsbetriebs und vom guten Willen des Gutsherrn bezeichnete Weber die Lage gerade des Gesindes und der Gutstagelöhner als derart, dass «bei durchschnittlichen Verhältnissen ihre materielle Lage ungleich gesicherter ist als die auch der bestgestellten gewerblichen Arbeiter».
    Warnend wies Weber auf Entwicklungstendenzen der ländlichen Arbeitsverfassung hin, die diesen relativ befriedigenden Zustand erschüttern könnten. Diese Tendenzen hingen vor allem mit der veränderten Stellung der Getreideproduktion und mit allgemeinen Konsumveränderungen zusammen. Dazu kamen die Wirkungen, die stark schwankende Getreidepreise auf dem inländischen und dem Weltmarkt sowie die Einführung intensiverer Anbaumethoden und von Dreschmaschinen auslösten. Alle diese Momente zusammen bewirkten, in der Einschätzung Webers, dass die traditionellen Grundlagen einer «Interessengemeinschaft» zwischen Arbeitgebern, d.h. den Grundbesitzern, und den ländlichen Arbeitern allmählich beseitigt würden. Dieses Zerbrechen der traditionellen Interessengemeinschaft und die Proletarisierung der Landarbeiterschaft machte Gutsherren und Landarbeiter zu ökonomischen Gegnern, für die Weber, in direkter Übernahme der gleichlautenden Einschätzung des sozialistischen Philosophen Friedrich Albert Lange, zufolge gilt: «Zwischen natürlichen wirtschaftlichen Gegnern giebt es eben
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