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Mark Brandis - Testakte Kolibri

Mark Brandis - Testakte Kolibri

Titel: Mark Brandis - Testakte Kolibri
Autoren: Mark Brandis
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Vorgesetzter gewesen, jetzt wurde ich zum Kindermädchen oder zum Beichtvater oder beides zugleich. Seufzend setzte ich die Mütze wieder auf. Ahnte Vidal, was er mir an diesem Tag antat?
    Er saß auf seinem Bett und trank Kaffee. Jordan war bei ihm.
    Als ich eintrat, stellte Vidal die Tasse fort und zog den Revolver aus der Tasche. Mit dem Griff voraus hielt er ihn mir hin.
    »Ich habe mich dumm benommen, Sir. Was immer ich da geredet habe – es war Unsinn. Ich sehe es ein. Nehmen Sie das Ding an sich! Ich brauche es nicht mehr.« Er mochte zur Einsicht gekommen sein, aber er machte es sich zu leicht.
    »Behalten Sie Ihren Talisman, Vidal!« sagte ich. »Ich wüßte nichts mit ihm anzufangen. Es ist Ihr Glücksbringer. Bei mir würde er versagen.«
    Vidal sah mich an, dann den Revolver und zuckte schließlich mit den Achseln.
    »Sie wollen ihn nicht, ich will ihn nicht – also weg mit ihm!«
    Achtlos warf er ihn in eine Ecke. Der Revolver rutschte über den Fußboden, schlug gegen die Wand, und der Schuß ging los.
    Mein Zorn, den ich so lange im Zaum gehalten hatte, entlud sich.
    »Sind Sie verrückt, Vidal? Wie leicht hätte das ein Unglück geben können!«
    Vidal saß ungerührt auf seinem Bett, den Blick auf mich gerichtet, und etwas wie Erstaunen schien sich darin zu zeigen.
    Nach ein paar Sekunden griff er mit der rechten Hand nach seinem Herzen, bekam blutige Finger und sank dann langsam auf die Seite. Die Kugel hatte ihn in die Brust getroffen. Als ich mich über ihn beugte, war er bereits tot.
    Jordan schlürfte mit gleichmütiger Miene seinen Kaffee. »Herrgott«, schrie ich ihn aufgebracht an, »empfinden Sie denn gar nichts? Was sind Sie überhaupt – ein Mensch oder ein Monstrum?«
    Er sah mich verständnislos an. »Was sollte ich wohl empfinden, Sir? Mein Kaffee wird kalt.«

Kapitel 21
    Als ich Grischa Romen hinausfahren wollte zum Start, sprang er noch einmal aus dem Transporter und eilte zurück in seine Baracke. Ich brauchte nicht lange zu warten. Mit der Mundharmonika in der Hand schwang er sich zum zweiten Mal in den Transporter, und während ich diesen bereits wendete, sagte er entschuldigend: »Wenn man so allein unterwegs ist, Sir, wird einem manchmal die Zeit sehr lang.«
    »Ihr Repertoire muß unerschöpflich sein«, bemerkte ich – nur um etwas zu sagen.
    Er lehnte sich zurück und verwahrte die Mundharmonika in der Brusttasche, bevor der Staub über sie herfallen konnte.
    »Meistens improvisiere ich – was mir gerade so einfällt.«
    »Und Sie haben sich nie mit dem Gedanken getragen, aus Ihrer Begabung einen Beruf zu machen?«
    Romen hob die Schultern.
    »Die Familie war dagegen, Sir. Wissen Sie, mein Großvater ist noch mit der Geige in der Hand gestorben – ein Zigeuner wie aus dem Bilderbuch. Aus mir sollte etwas Besseres werden – ein Himmelsstürmer, ein Erforscher fremder Planeten. Für einen einfachen Testpiloten hat es dann gerade gereicht.«
    Ein Gespräch wie dieses hatte es zwischen Romen und mir noch nie gegeben. Erst in den Tagen, die auf Henri Vidals Tod folgten, war ich ihm nähergekommen.
    »Sie sind ein hervorragender Pilot, Romen«, sagte ich in die bereits wieder aufkommende Fremdheit hinein, »und ich werde nicht vergessen, Sie bei nächster Gelegenheit für eine Beförderung vorzuschlagen.«
    Ich konnte nicht sehen, wie er das aufnahm, aber ich hörte, wie er nach einigen Sekunden antwortete: »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Sir. Ich fliege gern. Vielleicht bin ich wirklich ein ganz brauchbarer Pilot.«
    Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.
    Alles war anders geworden. Zusammen mit den neuen Piloten war ein neuer Geist in das Camp eingezogen – und manchmal ertappte ich mich, daß ich Sehnsucht hatte nach der alten Gemeinschaft, von der nur noch Romen und Jordan zurückgeblieben waren. Und Jordan ging ich nach Möglichkeit aus dem Weg. Seit jener Nacht war er mir unheimlich.
    Wenn ich die Angelegenheit nüchtern und vorurteilslos überdachte, wußte ich sehr wohl, daß man Jordan keinen Vorwurf machen konnte – nicht mehr und nicht weniger als Stafford, der einen ganz ähnlichen Fall dargestellt hatte. Gewiß war auch Jordan früher, vor seinem Unfall, ein empfindsamer, gefühlvoller Mensch gewesen. Daß er dies nicht mehr war und auch nicht sein konnte, war nicht seine Schuld.
    Diese Überlegung freilich änderte nichts daran, daß mein eigenes Gefühl gegen ihn rebellierte. Ich beschränkte den Umgang mit ihm auf rein dienstliche
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