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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten
Autoren: Carre
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er schon die ganze Zeit denkt: Ihr könnt mich haben. Ich bin euch sehenden Auges in die Falle gegangen, denn wie sonst könnte ich meinen Frieden mit Gott machen, also nehmt mich?
    MEILENSTEIN steht vor Issa und blickt liebevoll zu ihm auf. Issa sieht verwirrt auf ihn hinunter. MEILENSTEIN nimmt Issa innig in die Arme, tätschelt ihm die Schultern: mein Sohn. MEILENSTEIN streichelt Issas Gesicht, nimmt Issas Hände in seine und birgt sie an seiner Brust, während die beiden Westler über die kulturelle Kluft hinweg zusehen. Mit Verspätung dankt Issa seinem Berater und Mentor, gibt seiner Verehrung Ausdruck. Annabel Richter dolmetscht. Es scheint ein langer Abschied werden zu wollen.
    »Nichts Neues, Niki?«
    »Alles tot. Die Bildschirme, alles.«
    Ich bin auf mich allein gestellt, wie immer. Der Mann vor Ort gibt den Ton an. Arschlöcher, alle miteinander.
    Aber Bachmanns Display funktioniert wundersamerweise noch, auch wenn der Ton fehlt. Das Foyer ist leer. Alle vier sind verschwunden. Eine weitere Glanzleistung von Mohrs Technikern. Keine Bilder vom Ausgang.
    Die Tür der Bank öffnet sich. Kameras und Bildschirm sind überflüssig geworden. Endlich reicht das bloße Auge. Die automatische Beleuchtung erhellt die Treppe und die Säulen. MEILENSTEIN kommt als erster heraus. Ein bißchen wackelig auf den Beinen. Der Mann hat die Hosen gestrichen voll. Issa hat seine Unsicherheit ebenfalls bemerkt und geht neben ihm, eine Hand unter den Arm des Meisters geschoben. Issa lacht.
    Annabel, die hinter ihm ist, lacht auch. Endlich wieder an der frischen Luft. Sterne. Sogar der Mond scheint. Annabel und Brue bilden die Nachhut. Jetzt lachen alle, auch Brue. Nur Abdullah sieht unglücklich aus, was mir nur recht sein kann. Zuerst bestätige ich ihm, daß seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden sind, dann werde ich sein bester Freund und Helfer in der Not.
    Sie kommen auf mich zu. Issa und Annabel reden munter auf ihn ein, und er quält sich ein Lächeln ab, aber er kann sich kaum auf den Beinen halten.
    * * *
    Bachmann hebt langsam den Kopf mit der Mütze und sieht zu dem kleinen Trupp hin, der auf sein Taxi zukommt – ein einstudierter Akt. Ich bin ein schläfriger Hamburger Taxifahrer. Noch eine letzte Fuhre heute, dann hab ich Feierabend.
    Jetzt übernimmt Brue die Führung. Brue, der englische Gentleman, der sich vordrängt, um seine Gäste gebührend zu verabschieden.
    Bachmann mit seiner Mütze und der abgetragenen Jacke – der vor gerade einmal fünfzehn Sekunden seinen Bildschirm ausgeschaltet hat – läßt das Fenster herunter und begrüßt Brue auf die knurrige Art so vieler Taxifahrer bei Nacht.
    »Das Taxi für Brue Frères?« fragt Brue aufgeräumt und beugt sich durch das offene Fahrerfenster, eine Hand am Griff der hinteren Tür. »Phantastisch!« – und indem er sich ebenso frohgemut wieder an MEILENSTEIN wendet: »Wohin soll’s denn gehen, wenn man fragen darf, Herr Doktor? Die Bank hat nichts dagegen, wenn Sie sich bis nach Hause kutschieren lassen. Ich wünschte mir bloß, all unsere Geschäfte würden so freundschaftlich über die Bühne gehen.«
    Aber Abdullah kam zu keiner Antwort, oder wenn doch, hörte Bachmann sie nicht mehr. Ein hoher weißer Kleinbus raste auf den Vorplatz, krachte in Bachmanns Taxi, schob es seitwärts, zersplitterte das Seitenfenster und drückte die Fahrertür ein. Halb auf den Beifahrersitz geschleudert, sah Bachmann durch einen Regen von Glassplittern wie in Zeitlupe, wie Brue sich mit einem Satz in Sicherheit brachte, so daß sich seine Anzugjacke bauschte, als triebe sie im Wasser. Noch während er sich hochrappelte, kam ein Mercedes mit schwarzgetönten Scheiben direkt hinter dem Kleinbus zum Stehen, und ein zweiter setzte sich mit hoher Geschwindigkeit im Rückwärtsgang davor. Und als der erste Mercedes mit quietschenden Reifen hinter dem weißen Minibus stoppte, sah der benommene, vom Scheinwerferlicht geblendete Bachmann durch seine Windschutzscheibe so deutlich, als wäre es heller Tag, das Raubvogelgesicht und das aschblonde Haar der Frau, die neben dem maskierten Fahrer saß.
    * * *
    Zuerst meinte Annabel zu träumen, aber es war Wirklichkeit. Sie machte einen Schritt und fand sich allein. Abdullah war wie angewurzelt stehengeblieben; mit geschlossenen Beinen stand er da, die kleinen Füße leicht einwärts gedreht, und starrte an ihr vorbei auf die Straße hinaus. Wäre er nicht ein großer muslimischer Gelehrter gewesen, hätte sie ihrem Instinkt
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