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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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auf der Noank High nicht zu Ende bringen wird, hat mein Vater die Absicht, es schnell zu verkaufen. Ihm liegen bereits einige Angebote vor, aber er hat sie alle abgelehnt. Ich weiß nicht, warum. Er und Nicole reden kaum noch miteinander, und ich nehme an, dass sie sich früher oder später scheiden lassen werden. Einmal, kurz nach Josies Verhaftung, hat mein Dad Nicole ganz direkt gefragt, ob sie gewusst habe, dass Josie für meinen Tod verantwortlich ist. Sie beharrte darauf, keine Ahnung gehabt zu haben. Ich möchte ihr glauben. Das möchte ich wirklich. Doch ich kann mir diesbezüglich nicht sicher sein. Jahrelang hat sie so getan, als wäre meine Mutter ihre Freundin, während sie und mein Vater eine Affäre hatten. Was muss man für ein Mensch sein, um so etwas zu tun? Tief in meinem Herzen weiß ich, es besteht die Möglichkeit, dass sie ahnte, was Josie getan hat. Falls sie es tatsächlich wusste, bin ich mir sicher, dass sie kein Wort darüber verloren hätte, um ihre eigene Tochter zu schützen.
    Doch mehr als alles andere tut es mir leid für meinen Vater. In einem Leben hat er zwei Ehefrauen und zwei Töchter verloren. Wie macht ein Mensch weiter, nachdem er so etwas durchgemacht hat? Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er tun wird. Bislang verbringt er den Großteil seiner Zeit nach wie vor auf dem Boot, auch wenn es in Connecticut bereits friert. Hier kommt der Winter früh und bleibt für gewöhnlich länger, als den Leuten lieb ist.
    Richie beginnt, die Straße entlangzutrotten. Während ich ihn beobachte, spüre ich ein vertrautes Zucken in meinen Beinen. Ich weiß, dass es das Verlangen ist zu laufen; seit ich gestorben bin, habe ich das jeden Tag gespürt. Diesmal jedoch ist irgendetwas anders. Dieses Mal ist das Gefühl ermutigend, nicht frustrierend. Plötzlich scheint alles möglich.
    Ich streife meine Stiefel ab. Das habe ich schon etliche Male zuvor getan, aber bis zu diesem Moment war ich nie imstande, sie wirklich auszuziehen. Früher schaute ich dann nach unten und sah, dass sie wieder da waren, um meine Zehen einzuquetschen und für einen dermaßen penetranten und beißenden Schmerz zu sorgen, dass ich mich nie daran gewöhnt habe.
    Aber nicht heute. Heute bleiben sie aus. Ich wackle aufgeregt mit den Zehen, ohne Furcht, barfuß zu rennen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und lächle, voller Hoffnung. Dann laufe ich los und folge Richie die Straße hinunter. Er ist immer noch langsam; ich bin viel schneller. Schon nach kurzer Zeit habe ich ihn eingeholt und bin direkt neben ihm. Die Steinchen auf der Straße, unter meinen Fußsohlen, stören mich kein bisschen.
    Als Richie das Ende der Straße erreicht, bleibt er stehen. Wenn er sich nach rechts wendet, gelangt er in die Stadt; hält er sich links, steuert er auf den Strand zu, aber auch auf die Bootspiere, wo wir beide, ich und er, meinen Dad sehen, der in Pulli und Mantel auf dem Vorderdeck der Elizabeth sitzt, an einem Flachmann nippt und aufs Wasser hinausstarrt. Einfach nur aufs Wasser hinausstarrt. Oh, Daddy.
    Richie schaut sich um. Einen Moment lang sieht er mir direkt in die Augen. Und obgleich ich weiß, dass er mich nicht sehen kann, schenke ich ihm mein strahlendstes Lächeln. »Ich liebe dich, Richie Wilson«, sage ich zu ihm. »Das habe ich schon immer getan. Und das werde ich auch immer.«
    Das ist der Moment, in dem er seine Entscheidung trifft. Er wendet sich nach links und joggt auf die Piers zu. Als er die Elizabeth erreicht, steht er wortlos vor meinem Vater, und obwohl die beiden sich seit Jahren kennen, ist das Schweigen zwischen ihnen unbehaglich. Zuerst scheint es, als würde mein Dad ihn nicht einmal wahrnehmen. Dann jedoch schaut er zu ihm hinüber, setzt seinen Flachmann ab und sagt: »Richie. Hi.«
    »Hi, Mr. Valchar.« Richie kommt allmählich wieder zu Atem. »Ich habe Sie hier sitzen sehen, und ich dachte mir einfach … Tja, ich weiß nicht recht. Ich dachte, dass Sie vielleicht nichts gegen ein wenig Gesellschaft einzuwenden haben.«
    Richie war tausendmal bei mir daheim und hat im Laufe der Jahre unzählige Gespräche mit meinem Vater geführt. Doch in diesem Moment ist ihnen beiden unbehaglich zumute; sie schauen einander an, mit so viel unausgesprochenem Schmerz zwischen sich.
    »Ich bin gern allein«, sagt mein Dad. »Einfach hier draußen zu sein … Es sorgt dafür, dass ich mich Liz manchmal näher fühle.« Er hält inne. »Nicht immer. Aber manchmal. Und das genügt mir.«
    »Mr. Valchar«,
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