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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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Fluchtweg suchen. Aber er kann nirgends hin. Alles, was er tun kann, ist zuhören.
    »Liz hatte alles«, wiederholt Josie, »und das alles wollte sie wegen einer einzigen dummen, betrunkenen Nacht wegwerfen. « Ihre Stimme wird zittrig, bloß ein wenig. »Und sie hatte vor, mich mit sich in den Abgrund zu reißen. Ich liebe meinen Dad, Richie. Und ich liebe dich. Ich habe auch Liz geliebt. Sie war meine Schwester. Aber sie hatte ein gutes Leben. Es war an der Zeit, dass endlich mal jemand anders an der Reihe ist.« Sie schließt das Babyalbum und legt es beiseite. »Ich war an der Reihe. Sie wollte uns verraten; sie wollte mich verraten. Ich bin in jener Nacht nicht gefahren, ich habe Alex nicht angefahren. Ich habe es nicht verdient, dass ich für etwas Ärger bekomme, das sie getan hat.«
    »Du wolltest nicht erwischt werden.« Richies Augen sind weit aufgerissen. »Darum ging es bei alldem, nicht wahr? Gib’s zu. Sie wollte die Wahrheit sagen, und das konntest du nicht zulassen.«
    »Ja.« Josie wirkt fiebrig. Sie nickt zustimmend. »Sicher. Ich schätze, das ist richtig, Richie.«
    »Du bist krank«, sagt mein Freund. Mein Richie. Die Liebe meines Lebens.
    Josie nickt von neuem. »Kann schon sein.«
    Richie beugt sich vor und nimmt einige tiefe Atemzüge, bemüht, sich zu sammeln. Als er auf den Boden starrt, fällt ihm etwas ins Auge.
    Ich folge seinem Blick. Und keuche auf.
    Da, um Josies Knöchel, ist ihr »Beste Freundinnen«-Kettchen. Sie trägt es noch immer. Obwohl sie mich umgebracht hat.
    Mit einer einzigen flinken Bewegung und mehr Zorn in seiner Miene, als ich bei ihm jemals zuvor gesehen habe, springt Richie mit einem Satz auf sie zu. Bevor Josie auch nur die Chance hat, zurückzuweichen, packt er das Armband und zerrt es mit einem Ruck von ihrem Knöchel; die Kette reißt.
    »Was machst du da?«, kreischt sie und zieht ihr Bein weg.
    Er hält das Armband in seiner Faust. In seinem Blick liegt rechtschaffener Zorn, zusammen mit so vielen anderen Gefühlen – Schmerz, Kummer –, doch kein Mitgefühl. Kein Mitleid mit Josie.
    »Gib das zurück«, keucht meine Stiefschwester und starrt seine geschlossene Hand an.
    Er schüttelt den Kopf. »Nein. Du wirst es nie wieder tragen. Nie wieder.«
    Es klopft an der Vordertür.
    »Ich nehme an, das ist die Polizei.« Richie ist außer Atem. Er rührt sich nicht vom Fleck.
    Josie wirkt ruhig, doch ihr Atem geht tief und schwer. Ihre Augen sind glasig vor Emotionen, obgleich ihre Stimme tonlos klingt. »Willst du sie nicht reinlassen?«
    »Liz hätte alles für dich getan.«
    »Liz hatte vor, mein Leben zu ruinieren.«
    »Also hast du sie stattdessen umgebracht.«
    Josie blinzelt. »Lass sie rein, Richie. Ich bin es leid zu warten. « Sie seufzt. »Ohne Liz ist das Leben langweilig. Hätte ich das vorher gewusst, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. «

25
    Mittlerweile erinnere ich mich kristallklar an alles; mein ganzes Leben ist eine Abfolge deutlicher Erinnerungen, die einer Diashow gleich vor mir ausgebreitet sind. Ich habe jederzeit Zugriff darauf. Ich habe keine Gedächtnislücken mehr. Es gibt keine freien Flecken mehr. Das Gefühl der Hilflosigkeit, das mich seit dem Tag meines Todes gequält hat, die Frustration, sich nicht erinnern zu können, gehört der Vergangenheit an.
    Ich erinnere mich daran, zwölf Jahre alt zu sein, am ersten Tag in der siebten Klasse, als Mr. Riley meine schlaksige Gestalt auffiel und er fragte: »Hast du schon mal daran gedacht, Cross-Country-Rennen zu laufen?«
    »Meinen Sie damit Langstreckenlauf?« Schon damals war ich ein verwöhntes Mädchen. »Mein Dad sagt, er rennt bloß, wenn ihm jemand nachstellt.« Ich halte inne. »Aber meine Mom war Läuferin.«
    Zuerst war es schwierig, so wie alles Neue. Mir wurde klar, dass mein Körper bis zu jenem ersten Nachmittag nie seinen eigenen Rhythmus gefunden hatte. Und dann verstand ich, warum die Menschen es lieben zu laufen, da ich ebenfalls großen Gefallen daran fand: Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, als gebe es keine Grenzen für mich. Während meine Beine ihren eigenen Takt fanden und ich nach und nach feststellte, welches Tempo zu mir passt, lernte ich, wie es sich anfühlt, wenn sich der Verstand vollkommen leert. Wenn ich lief, brauchte ich mir keine Gedanken darüber zu machen, wie ich aussehe oder wer vielleicht beliebter war als ich. Ich dachte nicht an die Gerüchte, die ständig in der Stadt und in der Schule herumgingen, darüber, dass
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