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Man lebt nur ewig

Titel: Man lebt nur ewig
Autoren: Jennifer Rardin Charlotte Lungstrass
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Schädel waren zwar mit großer Wucht zer- trümmert, die Körper jedoch nicht angefressen worden, offenbar getötet von einer Bestie mit enormen Kräften, allerdings weder aus Hunger noch in Furcht. Er hatte keinen konkreten Hinweis darauf - doch er fühlte sich beobachtet, vielleicht sogar aufmerksam studiert, von ei- nem im Dunkeln dieser Höhle lauernden Wesen. Der Herr Sardu trug jeden einzelnen Leichnam von der Höh- le fort und begrub sie alle tief. Natürlich schwächten ihn diese Anstrengungen sehr und raubten ihm fast seine ganze Kraft. Er war wie ausgebrannt, er war farmutshet . Doch so allein und verängstigt und erschöpft er auch sein mochte - in dieser Nacht kehrte er zu der Höhle zurück, um dem Bösen, das sich nach Einbruch der Dunkelheit zu erkennen gab, entgegenzutreten und seine Ahnen zu rächen oder bei diesem Versuch zu sterben. Dies alles weiß man aus seinem Tagebuch, das viele Jahre später in den Wäldern gefunden wurde. Es war sein letzter Eintrag.«
    Abrahams Mund war leer und stand offen. »Aber was war passiert, Bubbeh?«
    »Niemand weiß das wirklich. Zu Hause, als aus sechs Wochen ohne eine Nachricht acht wurden und dann zehn, befürchtete man, die ganze Jagdgesellschaft sei verschollen. Ein Suchtrupp wurde zusammengestellt, der jedoch mit leeren Händen zurückkehrte. Dann, in der elften Woche, traf eines Nachts eine Kutsche mit zugezo- genen Vorhängen auf dem Anwesen der Sardu ein. Es war der junge Herr. Er zog sich in seine Burg zurück, in ei- nen Flügel mit leerstehenden Schlafgemächern und wur- de nur noch selten gesehen, wenn überhaupt. Zu jener
Zeit verfolgten ihn allerlei Gerüchte über das, was in den Wäldern Rumäniens geschehen war. Die wenigen, die be- haupteten, Sardu gesehen zu haben - sofern diesen Be- richten überhaupt geglaubt werden kann -, bestanden darauf, dass er von seinen Gebrechen geheilt worden sei. Einige raunten gar, er sei mit enormen Kräften zurückge- kehrt, passend zu seiner übermenschlichen Größe. Doch so tief war Sardus Trauer um seinen Vater, seine Onkel und Cousins, dass er tagsüber nie wieder gesehen wurde und die meisten seiner Bediensteten entließ. Nachts rühr- te es sich in der Burg - man sah flackerndes Kaminfeuer hinter den Fenstern -, aber im Laufe der Zeit verfiel das Anwesen der Sardu zusehends. Dann jedoch behaupteten manche, den Riesen in der Nacht durchs Dorf streifen zu hören. Besonders Kinder erzählten sich die Geschichte, das Pick-pick-pick seines Gehstockes gehört zu haben, auf den Sardu sich nun nicht länger stützte, sondern den er benutzte, um sie aus ihren Nachtlagern zu rufen. Und ihnen Süßigkeiten und Flitterkram zu geben. Ungläubi- gen wurden die Löcher im Boden gezeigt, manche unmit- telbar vor den Schlafzimmerfenstern, kleine gestocherte Löcher - wie von seinem Gehstock mit dem Wolfskopf.«
    Die Augen seiner bubbeh verdunkelten sich. Sie blickte auf seine Schale und sah, dass der Großteil der Suppe ver- schwunden war.
    »Dann, Abraham, verschwanden die ersten Bauernkin- der. Und man erzählte sich, dass auch aus umliegenden Dörfern Kinder verschwanden. Selbst aus meinem Dorf. Ja, Abraham, als kleines Mädchen wuchs deine bubbeh gerade mal einen halben Tagesmarsch von Sardus Burg entfernt auf. Ich erinnere mich an zwei Schwestern. Auf einer Waldlichtung fand man ihre Leichen, so weiß wie der Schnee um sie herum, die offenen Augen vor Frost
glänzend. Ich selbst hörte eines Nachts, von gar nicht so weit entfernt, dieses Pick-pick-pick - ein durchdringen- des, rhythmisches Geräusch -, und schnell zog ich mir die Decke über den Kopf, um es nicht hören zu müssen, und danach habe ich viele Nächte lang nicht mehr ge- schlafen.«
    Abraham verschlang das Ende der Geschichte mit dem Rest der Suppe.
    »Irgendwann war Sardus Dorf praktisch menschenleer und verlassen, und auf dem Ort lag ein Fluch. Die Zigeu- ner, die mit ihren Wagen über das Land zogen und ihre fremdartigen Waren verkauften, erzählten von sonderba- ren Dingen, die sich dort zutrügen, von Geistern und Erscheinungen in der Nähe der Burg. Von einem Riesen, der im Mondschein durch die Wälder streifte, wie ein Gott der Nacht. Sie waren es, die uns warnten. ›Iss und werde stark - sonst kommt Sardu dich holen.‹ Deswegen ist es wichtig, Abraham. Ess gezunterhait ! Iss und sei stark. Kratz jetzt die Schüssel da aus. Wenn nicht - dann kommt er.« Seine Großmutter war zurückgekehrt aus diesen Momenten der Dunkelheit, der Erinnerung.
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