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Man lebt nur ewig

Titel: Man lebt nur ewig
Autoren: Jennifer Rardin Charlotte Lungstrass
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eine »Großmutter-Geschichte«. Ein Märchen. Eine Legende.
    »Er war der Sohn eines polnischen Adeligen. Und sein Name war Jusef Sardu. Der Herr Sardu war größer als jeder andere Mann. Er überragte noch jedes Dach des Dorfes. Bei jeder Tür musste er sich tief bücken, um hin- durchgehen zu können. Aber seine Größe, sie war für ihn auch eine Bürde. Ein Geburtsfehler - kein Segen. Der junge Mann litt. Seinen Muskeln fehlte die Kraft, die lan- gen, schweren Knochen zu tragen. Es gab Tage, da war für ihn allein schon das Gehen ein Kampf. Er benutzte einen Gehstock, einen langen Stab - länger, als du groß bist - mit einem silbernen Knauf in Form eines Wolfskop- fes, dem Wappentier der Familie.«
    »Und dann, Bubbeh?«, fragte Abraham zwischen zwei Löffeln.
    »Dies war sein Schicksal, und es lehrte ihn Demut,
wahrlich eine seltene Eigenschaft bei einem Adeligen. Er hatte sehr viel Mitgefühl für die Armen, die hart Arbei- tenden, die Kranken. Ganz besonders die Kinder des Dorfes waren ihm lieb und teuer, und seine großen, tiefen Taschen - so groß wie Rübensäcke - waren prallgefüllt mit Flitterkram und Süßigkeiten. Er selbst hatte keine echte Kindheit gehabt, war er doch mit acht Jahren schon so groß wie sein Vater und mit neun bereits einen Kopf größer gewesen. Im Stillen schämte sich sein Vater für sei- ne Zartheit und Größe. Aber der Herr Sardu war wirklich ein freundlicher Riese und wurde von seinem Volk sehr geliebt. Man sagte über ihn, der Herr Sardu schaue zwar auf jeden herunter, doch er sehe auf niemanden herab.«
    Seine Großmutter nickte Abraham aufmunternd zu und erinnerte ihn daran, noch einen weiteren Löffel zu essen. Er kaute auf einer gekochten Roten Bete, wegen ihrer Farbe, Form und den kapillargleichen Fasern auch »Säuglingsherz« genannt.
    »Und dann, Bubbeh?«
    »Er war auch ein großer Naturfreund und hegte keiner- lei Interesse für die Jagd, die ihm zu grausam erschien - doch im Alter von fünfzehn Jahren drängten sein Vater und seine Onkel ihn als Mann von Adel und Stand dazu, sie auf eine sechswöchige Expedition nach Rumänien zu begleiten.«
    »Hierher, Bubbeh?«, fragte Abraham. »Der Riese - der ist zu uns hierhergekommen?«
    »In den Norden des Landes, kaddishel . In die dunklen Wälder. Die Männer der Sardu-Familie kamen nicht, um Wildschweine, Bären oder Elche zu jagen. Sie kamen, um Jagd auf den Wolf zu machen, auf das Symbol der Familie, das Wappentier des Hauses Sardu. Sie jagten ein Raubtier. Der Überlieferung der Familie Sardu zufolge verlieh der
Verzehr von Wolfsfleisch den Sardu-Männern Kraft und Mut, und der Vater des jungen Herrn glaubte, dass es auch die schwachen Muskeln seines Sohnes heilen könnte.«
    »Und dann, Bubbeh?«
    »Ihre Reise war lang und beschwerlich, auch schlech- tes Wetter machte ihnen zu schaffen, und so hatte Jusef schwer zu kämpfen. Er hatte sein Dorf noch nie zuvor verlassen, und die Blicke, mit denen er unterwegs von Fremden bedacht wurde, beschämten ihn. Als sie den dunklen Wald erreichten, fühlte sich das Land um ihn herum lebendig an. Herden von Tieren durchstreiften den Wald bei Nacht, fast wie Flüchtlinge, vertrieben aus ihren Verstecken, Höhlen, Nestern und Schlupfwinkeln. So viele Tiere, dass die Jäger nachts in ihrem Lager nicht schlafen konnten. Manche wollten wieder heimkehren, doch die Besessenheit des ältesten Sardu war stärker als alles andere. Sie konnten die Wölfe hören, die in der Nacht heulten, und er wollte so verzweifelt einen davon für sei nen Sohn, seinen einzigen Sohn, dessen Riesenhaftigkeit wie eine Seuche auf der Geschlechterfolge der Sardu lastete. Er wollte das Haus Sardu von diesem Fluch reinigen und seinen Sohn verheiraten, damit er viele gesunde Erben zeugte. Und so kam es, dass sein Vater am zweiten Abend, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, der Erste war, der von den anderen getrennt wurde, als er gerade einen Wolf verfolgte. Die übrigen Männer warteten die ganze Nacht auf ihn und schwärmten unmittelbar nach Sonnen- aufgang aus, um ihn zu suchen. Und an diesem Abend kehrte einer von Jusefs Cousins nicht mehr zurück. Und so ging es weiter und weiter, verstehst du?«
    »Und dann, Bubbeh?«
    »Bis nur noch einer übrig war - Jusef, der Riesen-Junge. Am folgenden Tag machte er sich auf den Weg und fand
in einer Gegend, die sie zuvor bereits abgesucht hatten, die Leichname seines Vaters und all seiner Cousins und Onkel ordentlich vor dem Eingang einer Höhle aufge- reiht. Ihre
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