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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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sie die Frau an.
    Auf ihrer ausgestreckten Handfläche lag ein Ball, Anteks Ball. Malka erkannte ihn sofort. Der eine Streifen war rot kariert, der andere blau mit gelben Blümchen, sie hatte die Stoffreste selbst aus Teresas Flickkorb ausgewählt. Malka starrte von dem Ball zu der Frau, von der Frau zu dem Ball und wieder zu der Frau. Tränen liefen über ihr Gesicht. Als die Frau lächelte, verschwanden ihre Augen fast in den vielen Falten.
    Malka nahm zögernd die Hände von den Ohren, hielt sie noch eine Weile in der Luft und ließ sie dann sinken.
    »Ich bin Teresas Mutter«, sagte die Frau, ihre Stimme klang jetzt klar. »Ich bin Anteks Babka. Ich bin gekommen, um dich zu holen, deine Mutter wartet auf dich.«
    Malka verstand das nicht, die Frau Doktor war doch in Ungarn, aber die alte Frau war Teresas Mutter, sie war Anteks Babka, sie hatte Anteks Ball … Noch immer liefen ihr die Tränen aus den Augen, ohne dass sie wirklich weinte, kein Ton kam aus ihrer Kehle. Schwester Zippi wischte ihr die Tränen mit einem Taschentuch ab, sie spürte es kaum, sie sah niemanden an, nur diese alte Frau.
    Und dann nickte sie.
    Doktor Burg und Schwester Zippi lachten erleichtert.
    Als sie über eine Seitengasse das Ghetto verließen, schneite es wirklich. Die alte Frau nahm Malkas Hand. Malka ließ sich führen. Nachdem sie genickt hatte, hatte sie alles willenlos über sich ergehen lassen. Sie hatte sich von Schwester Zippi und Schwester Rosa umarmen lassen, sie hatte genickt, als ihr der alte Schmulik mit Tränen in den Augen auf Wiedersehen gesagt hatte, obwohl sie wusste, dass sie ihn nicht wieder sehen würde. Er war auch nur eines von den Gesichtern, die seit jenem Tag in Lawoczne wie Herbstlaub an ihr vorbeigeflogen waren.
    Die alte Frau fragte etwas, aber als Malka keine Antwort gab, schwieg sie auch.
    Im Zug saßen sie nebeneinander auf der Bank. Malka schaute vor sich hin, betrachtete ihre abgebissenen Fingernägel, die angekauten Kuppen und verkroch sich in sich selbst. Aber die Stimme einer Frau riss sie aus ihrer Leere.
    »Das Kind sieht aber schlecht aus«, sagte eine Frau, die auf der Bank gegenüber saß. Sie holte aus ihrer Tasche ein Butterbrot und hielt es Malka hin. Malka nahm es automatisch, man lehnte kein Brot ab, selbst dann nicht, wenn man im Augenblick so durcheinander war, dass man den Hunger nicht spürte. Sie fing sofort an zu essen und gleich nach dem ersten Bissen war ihr Hunger wieder da. Sie kaute langsam und gründlich, ließ das Brot fast im Mund zergehen, damit auch das letzte Fetzchen Nährwert herausgelutscht wurde.
    »Danke«, sagte die alte Frau neben ihr. »Ja, das Kind war lange krank, im Krankenhaus, und Sie wissen ja, wie die Krankenhäuser sind.«
    Die Frau gegenüber nickte. »Da müssen Sie aber gut ranpäppeln, so wie die Kleine aussieht. Was hatte sie denn?« In ihrer Stimme mischten sich Mitleid und Neugier.
    »Fieber«, sagte die alte Frau, die vielleicht wirklich Anteks Babka war. »Sehr hohes Fieber.«
    Malka kaute und schaute aus dem Fenster. Sie hörte nicht zu, als die beiden Frauen anfingen, sich über Krankheiten zu unterhalten. Der Frau gegenüber war vor vielen Jahren ein Kind an einem heimtückischen Fieber gestorben, bei Fieber wisse man nie, was daraus würde.
    Draußen vor dem Fenster zog eine weiße Landschaft vorbei, Berge, Bäume, Felder, ab und zu Häuser. Malka versuchte, nicht zu denken, sie musste ihren Kopf leer machen, Gedanken waren gefährlich, Hoffnungen waren noch gefährlicher. Sie ließ sich vom Schütteln des Zuges und dem Rattern der Räder einlullen. Nur wenn die Lokomotive schrille Pfeiftöne ausstieß, schreckte sie hoch. Schließlich hielt der Zug wieder und Malka dachte erstaunt, dass diesmal überhaupt kein Schaffner gekommen war. Die alte Frau stand auf und zog Malka hoch, die lieber sitzen geblieben wäre. Für immer.
    Malka erkannte den Bahnhof sofort, sie brauchte das Schild nicht, das über dem nur notdürftig reparierten Gebäude hing, seit die Russen es damals, bei ihrem Abzug, zerstört hatten. Schnee war durch die Löcher im Dach auf den Fußboden gefallen und zu braunem Matsch geschmolzen. Sie waren in Lawoczne.
    Malka wollte sich losreißen, wollte nach Hause rennen, in ihr Zimmer, in ihr Bett. Sie wollte sich die Decke über den Kopf ziehen und schlafen und nicht mehr aufwachen. Aber die alte Frau hielt sie fest und zog sie weiter.
    Vor dem Bahnhof wartete ein Schlitten auf sie. Ein Mann stieg vom Bock und sagte: »Ich bin
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