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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette
Autoren: Georges Simenon
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er?«
    Sie sahen ihn sichtlich erleichtert an. Er schob seine ruhige, massige Gestalt in die Mitte des aufgeregten Grüppchens, und plötzlich waren die anderen nur noch Randfiguren.
    »Im Waschraum …«
    Maigret stieg ein und erblickte zu seiner Rechten die geöffnete Tür des Waschraums. Am Boden lag ein in sich zusammengesackter, merkwürdig verrenkter Körper.
    Der Zugführer gab auf dem Bahnsteig seine Anweisungen: »Der Wagen wird auf ein Abstellgleis gefahren … Warten Sie … Gleis 62. Und benachrichtigen Sie den Kommissar von der Bahnpolizei.«
    Zuerst sah er nur den Nacken des Mannes. Aber als er dessen schiefsitzende Mütze beiseite schob, legte er das linke Ohr frei.
    »Große Ohrläppchen, Höhe der Ohrmuschel an der Innenseite normal, Gesamtgröße kleiner als normal, hervorstehender Höcker der Ohrmuschel …«, murmelte er.
    Auf dem Linoleumboden waren ein paar Blutstropfen. Er schaute sich um. Die Eisenbahnbeamten standen auf dem Bahnsteig und auf dem Trittbrett. Der Bahnhofsvorsteher redete immer noch.
    Da drehte Maigret den Kopf des Mannes zur Seite und klemmte seine Pfeife noch fester zwischen die Zähne.
    Hätte er nicht den Reisenden im grünen Mantel zum Ausgang gehen sehen und hätte er nicht beobachtet, wie er sich in Begleitung eines Dolmetschers des Hotels Majestic zu einem Auto begab, hätten ihm Zweifel kommen können.
    Dieselbe Personenbeschreibung. Der gleiche kleine, blonde, wie eine Zahnbürste geschnittene Schnurrbart unter einer scharfkantigen Nase. Die gleichen dünnen hellen Augenbrauen. Die gleichen grünlichgrauen Pupillen.
    Mit anderen Worten: Pietr, der Lette!
    Maigret konnte sich in diesem winzigen Waschraum nicht rühren. Jemand hatte vergessen, den Hahn zuzudrehen, so daß unentwegt Wasser ins Becken lief, und aus einer undichten Fuge zischte der Dampf.
    Seine Beine berührten den Leichnam. Er richtete den Oberkörper des Toten auf, bemerkte an der Brust, auf dem Hemd und der Jacke Brandspuren, die von einem aus nächster Nähe abgegebenen Schuß stammen mußten.
    Es war ein großer schwärzlicher Fleck, in den sich rotviolettes Blut mischte.
     
    Eine Einzelheit fiel dem Kommissar auf. Zufällig warf er einen Blick auf einen der Füße. Er lag verdreht und merkwürdig verrenkt wie der ganze Körper, den man zusammengepreßt haben mußte, um die Tür wieder schließen zu können.
    Der Schuh war schwarz, äußerst gewöhnlich, billig. Man konnte sehen, daß er schon einmal besohlt worden war. Der Absatz war an einer Seite abgetreten, und in der Mitte der Sohle gewahrte man ein rundes Loch, das die Abnutzung allmählich hineingegraben hatte.
    Der Kommissar der Bahnpolizei erschien. Tressenbesetzt, selbstsicher, fragte er schon auf dem Bahnsteig:
    »Was ist los? … Ein Verbrechen? … Selbstmord? … Nichts berühren, bis die Staatsanwaltschaft eintrifft, klar? … Vorsichtig! … Ich bin hier verantwortlich!«
    Maigret hatte größte Mühe, aus dem Waschraum herauszukommen, wo er zwischen den Beinen des Toten eingeklemmt war. Mit einer schnellen geübten Bewegung tastete er die Taschen ab und vergewisserte sich, daß sie leer waren, absolut leer.
    Er verließ den Eisenbahnwagen mit erloschener Pfeife, schiefsitzendem Hut und einem Blutfleck auf der Manschette.
    »Sieh an, da ist ja Maigret! … Nun, was halten Sie davon?«
    »Nichts! Sehen Sie selbst …«
    »Selbstmord, nicht wahr?«
    »Wenn Sie wollen … Haben Sie die Staatsanwaltschaft benachrichtigt?«
    »Gleich, als ich es erfahren habe.«
    Eine Stimme ertönte aus dem Lautsprecher. Ein paar Leute, die gemerkt hatten, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war, betrachteten von fern den leeren Zug, die unbewegliche Gruppe vor dem Trittbrett des fünften Wagens.
    Maigret ließ sie alle stehen, verließ den Bahnhof, rief nach einem Taxi.
    »Zum Majestic!«
    Es stürmte jetzt noch stärker. Heftige Böen wirbelten durch die Straßen und ließen die Passanten wie trunkene Gestalten erscheinen. Irgendwo fiel ein Dachziegel auf den Bürgersteig. Autobusse schaukelten vorüber.
    Die Champs-Elysées hatten sich in eine fast leere Rennstrecke verwandelt. Es fing an zu regnen. Der Portier des Majestic stürzte mit seinem gewaltigen roten Schirm auf das Taxi zu.
    »Polizei! … Ist eben ein Reisender des Nordexpreß angekommen?«
    Schlagartig schloß der Portier seinen Regenschirm.
    »Ja, da ist einer angekommen.«
    »Grüner Überzieher … Blonder Schnurrbart …«
    »Jawohl. Erkundigen Sie sich beim Emfang.«
    Die Leute
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