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Maigret und Pietr der Lette

Maigret und Pietr der Lette

Titel: Maigret und Pietr der Lette
Autoren: Georges Simenon
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der Gedanke, ihn anzusprechen, und begab sich nachdenklich zum Aufzug.
     
    Zehn Minuten später nahm er im Speisesaal am Tisch von Mr. Mortimer-Levingston und seiner Frau Platz, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand.
    Die Perlen, die Mrs. Levingston um den Hals trug, waren eine Million Francs wert. Ihr Gatte hatte tags zuvor eines der größten französischen Automobilwerke wieder flottgemacht, von dem er sich selbstverständlich die Aktienmehrheit gesichert hatte.
    Die drei plauderten vergnügt miteinander. Pietr, der Lette, redete viel, mit gedämpfter Stimme und leicht vorgebeugt. Er fühlte sich ausgesprochen wohl, und trotz der dunklen Silhouette Maigrets, den er hinter den gläsernen Flügeltüren in der Halle erkennen konnte, benahm er sich natürlich und ungezwungen.
    Im Büro ließ sich der Kommissar die Liste der Fahrgäste geben. Ohne Überraschung las er an der Stelle, wo der Lette unterschrieben hatte: Oswald Oppenheim aus Bremen, Reeder.
    Zweifellos hatte er einen gültigen Paß und alle sonstigen Ausweispapiere auf diesen Namen, wie er sie auch auf alle möglichen anderen Namen besaß.
    Ebensowenig war zu bezweifeln, daß er den Mortimer-Levingstons bereits andernorts begegnet war, in Berlin, Warschau, London oder New York.
    War er nur in Paris, um sie zu treffen und eine seiner gewaltigen Gaunereien zu verüben, auf die er spezialisiert war?
    Auf der Karteikarte, die Maigret in der Tasche hatte, hieß es:
     
    »Außerordentlich geschicktes und gefährliches Individuum unbekannter Nationalität, aber nordischer Herkunft. Er wird für einen Letten oder Esten gehalten; er spricht fließend russisch, französisch, englisch und deutsch.
    Da er sehr gebildet ist, gilt er als Chef einer mächtigen internationalen Bande, die vor allem auf Betrug spezialisiert ist.
    Diese Bande war nacheinander in Paris, Amsterdam (Affäre van Heuvel), Bern (Affäre der Reedervereinigung), Warschau (Affäre Lippmann) und verschiedenen anderen europäischen Städten am Werk, wo ihr Vorgehen nicht so eindeutig identifiziert werden konnte.
    Die Komplizen von Pietr, dem Letten, scheinen überwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum zu kommen. Einer von ihnen, der sehr häufig mit ihm zusammen gesehen und erkannt worden ist, als er den gefälschten Scheck bei der Berner Bundesbank vorlegte, ist bei seiner Festnahme getötet worden. Er gab sich als ein gewisser Major Howard von der ›American Legion‹ aus, man hat jedoch feststellen können, daß er ein ehemaliger Alkoholschmuggler aus New York war, der in den Vereinigten Staaten unter dem Spitznamen ›Dicker Fred‹ bekannt war.
    Pietr, der Lette, ist zweimal verhaftet worden. Das erste Mal in Wiesbaden, weil er einen Münchner Kaufmann um eine halbe Million Mark gebracht hatte, und das zweite Mal in Madrid wegen einer ähnlichen Geschichte, deren Opfer eine bedeutende Persönlichkeit am spanischen Hof war.
    In beiden Fällen bediente er sich der gleichen Taktik. Er hatte eine Unterredung mit seinem Opfer, bei der er zweifellos beteuert hat, daß sich die gestohlenen Gelder in Sicherheit befinden und daß man sie nach seiner Haft gewiß nicht wiederfinden würde.
    Beidemal wurde die Klage zurückgezogen, die Kläger sind wahrscheinlich entschädigt worden.
    In der Folgezeit wurde er nie wieder auf frischer Tat ertappt.
    Vermutliche Zusammenarbeit mit der Bande Maronnetti (Falschgeld und Urkundenfälschung) und der Kölner Bande (gen. die Mauerbohrer).«
     
    Blieb noch ein Gerücht, das bei allen europäischen Polizeiämtern umging: Pietr, der Lette, Chef und ›Kassierer‹ einer oder mehrerer Banden, mußte einige Millionen verwalten, die unter verschiedenen Namen auf Banken verstreut, genauer, in Industrieunternehmen investiert waren. Er lächelte leicht, während er Mrs. Mortimer-Levingston zuhörte, die ihm eine Geschichte erzählte, und seine weiße Hand pflückte prächtige Beeren von einer Weintraube.
     
    »Verzeihen Sie, hätten Sie vielleicht einen Augenblick für mich Zeit?«
    Es war Maigret, der sich in der Halle des Majestic an Mortimer-Levingston wandte, nachdem Pietr, der Lette, wie auch die Amerikanerin sich wieder in ihre Zimmer begeben hatten.
    Mortimer hatte absolut nichts von der sportlichen Erscheinung der Yankees. Er gehörte eher dem romanischen Typus an.
    Er war lang und zierlich. Seinen winzigen Kopf bedeckte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar.
    Er schien ständig müde zu sein. Seine Augenlider waren schlaff, bläulich. Er führte
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