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Maigret und die alte Dame

Maigret und die alte Dame

Titel: Maigret und die alte Dame
Autoren: Georges Simenon
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sollte, die Möbel wieder in Roses Zimmer hinaufzuschaffen. Einen Augenblick meinte Maigret helfen zu müssen, weil er nicht mit ansehen konnte, wie Valentine die schweren Stücke trug.
    »Ich wundere mich jetzt, dass ich so auf Ihrem Kommen bestand, denn ich fürchte mich nicht einmal.«
    »Schläft Madame Leroy bei Ihnen?«
    »O nein! Sie geht in einer Stunde. Sie hat einen vierundzwanzigjährigen Sohn, der bei der Bahn arbeitet und den sie verwöhnt wie ein kleines Kind. Er kommt bald nach Hause, deshalb hat sie es so eilig.«
    »Sie schlafen also allein im Haus?«
    »Das wäre nicht das erste Mal.«
    Er ging durch den Garten, stieß die Gartentür auf, die ein bisschen quietschte. Die Sonne ging über dem Meer unter und tauchte die Straße in gelbes, beinahe rötliches Licht. Die Straße erinnerte ihn an seine Kindheit; sie war nicht geteert, die Schuhe sanken in dem weichen Staub ein; am Straßenrand wuchsen Hecken und Brennnesseln. Etwas weiter unten machte die Straße eine Kurve, und genau da sah er die Gestalt einer Frau, die auf der anderen Straßenseite langsam den Hang heraufkam.
    Sie lief im Gegenlicht, war dunkel gekleidet, und er erkannte sie, ohne sie früher schon einmal gesehen zu haben. Das konnte nur Arlette sein, die Tochter der alten Dame. Sie schien nicht ganz so klein und zierlich zu sein wie ihre Mutter, wirkte aber ebenso anmutig und elegant und hatte dieselben großen, unwirklich blauen Augen. Ob sie den Kommissar erkannte, dessen Foto so oft in den Zeitungen zu sehen war? Oder war sie einfach der Meinung, dieser städtisch gekleidete Fremde hier auf dem Weg könne nur ein Polizist sein? Maigret hatte den Eindruck, als ob sie in dem Moment, als sie sich begegneten, anhielt und ihn ansprechen wollte. Auch er zögerte. Er hätte sie auch gerne angesprochen, aber die Gelegenheit und der Ort waren ungünstig.
    Also sahen sie sich nur schweigend an, Arlettes Augen schauten völlig unbeteiligt. Ihr Blick war ernst, etwas abwesend, gleichgültig. Maigret drehte sich um, als sie hinter der Hecke verschwunden war, dann setzte er seinen Weg nach Etretat fort.
    Vor einem Postkartenstand traf er Inspektor Castaing.
    »Ich habe auf Sie gewartet, Kommissar. Man brachte mir soeben die Berichte. Ich habe sie in der Tasche. Wollen Sie sie durchsehen?«
    »Ich möchte mich erst einmal auf eine Terrasse setzen und ein kühles Bier trinken.«
    »Hat sie Ihnen denn nichts angeboten?«
    »Sie hat mir einen so alten und so ausgezeichneten Calvados kredenzt, dass ich jetzt etwas ganz Normales und Erfrischendes trinken möchte.«
    Die Sonne, die als riesiger Feuerball in der zweiten Nachmittagshälfte schon tief stand, ließ die Nachsaison ebenso ahnen wie die wenigen Badegäste, die bereits Wollsachen trugen und die, als die Kühle sie vom Meer verscheucht hatte, nicht wussten, was sie auf den Straßen anstellen sollten.
    »Arlette ist gerade angekommen«, sagte Maigret, als sie sich an einen kleinen Tisch an der Place de la Mairie gesetzt hatten.
    »Haben Sie sie gesehen?«
    »Ich vermute, sie ist diesmal mit dem Zug gekommen.«
    »Ging sie zu ihrer Mutter? Haben Sie mit ihr gesprochen?«
    »Wir sind uns nur unterwegs begegnet, etwa hundert Meter vor La Bicoque.«
    »Glauben Sie, sie übernachtet dort?«
    »Das ist wohl anzunehmen.«
    »Sonst ist niemand im Haus, nicht wahr?«
    »Heute Nacht sind nur Mutter und Tochter dort.«
    Das beunruhigte den Inspektor.
    »Sie werden doch nicht von mir verlangen, dass ich diesen ganzen Papierkram durchlese?« fragte Maigret und schob die dicke gelbe, mit Dokumenten vollgestopfte Mappe von sich. »Erzählen Sie mir zuerst etwas über das Glas. Sie haben es gefunden und eingepackt?«
    »Ja. Es stand auf dem Nachttisch im Zimmer des Mädchens. Ich fragte Madame Besson, ob es auch bestimmt das Glas sei, in dem die Medizin war. Eine Verwechslung schien ausgeschlossen, da das Glas leicht getönt und als letztes Stück eines alten Service übriggeblieben ist.«
    »Fingerabdrücke?«
    »Die der alten Dame und die von Rose.«
    »Die Flasche?«
    »Die Flasche mit dem Schlafmittel fand ich im Arzneischrank im Bad an dem angegebenen Platz. Auf ihr sind auch nur die Abdrücke der alten Dame zu finden. Haben Sie übrigens ihr Zimmer gesehen?«
    Castaing, wie auch Maigret, war überrascht gewesen, als er das Zimmer Valentines betrat. Sie hatte dem Inspektor mit freudiger Unbefangenheit und ohne Kommentar die Tür geöffnet, aber sie musste sich der Wirkung sehr genau bewusst sein, die das
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