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Maigret und die alte Dame

Maigret und die alte Dame

Titel: Maigret und die alte Dame
Autoren: Georges Simenon
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gegenüber war mit ausgesuchter, ein wenig altmodischer Eleganz gekleidet und mit einer Unmenge Schmuck behängt.
    »Seit dem Tod meines Mannes vor nun fünf Jahren lebe ich allein in einem kleinen Haus in Etretat, das mir gehört. Genauer gesagt, bis Sonntag Abend lebte ich dort mit einem Hausmädchen, das schon mehrere Jahre bei mir angestellt war und aus der Gegend stammte. Sie ist in der Nacht von Sonntag auf Montag gestorben, Herr Kommissar; sie ist sozusagen an meiner Stelle gestorben, und deswegen bin ich hergekommen, um Sie um Ihre Mithilfe zu bitten.« Sie sprach ohne jedes Pathos. Mit einem feinen Lächeln schien sie sich eher für die tragischen Ereignisse zu entschuldigen, von denen sie berichtete.
    »Ich bin nicht verrückt, seien Sie unbesorgt. Ich bin auch nicht das, was man gemeinhin eine verrückte Alte nennt. Wenn ich sage, dass Rose - so hieß mein Dienstmädchen - für mich gestorben ist, bin ich einigermaßen sicher, dass ich mich nicht täusche. Erlauben Sie mir, den Hergang in einigen Worten zu berichten?«
    »Ich bitte darum.«
    »Seit über zwanzig Jahren pflege ich jeden Abend ein Schlafmittel zu nehmen, denn ich leide an Schlaflosigkeit. Die Tropfen schmecken ziemlich bitter, der Geschmack wird jedoch durch einen starken Aniszusatz gemildert. Ich kenne mich in diesen Sachen aus, denn mein Mann war Apotheker.
    Wie an allen anderen Abenden auch, stellte ich am Sonntag das Glas mit der Medizin hin, und Rose war bei mir, als ich schon im Bett lag und sie einnehmen wollte.
    Ich trank einen Schluck und fand den Geschmack bitterer als gewöhnlich.
    >Ich habe wohl mehr als zwölf Tropfen genommen, Rose, ich trinke es nicht aus.<
    >Gute Nacht, Madame!<
    Sie trug das Glas wie immer hinaus. Packte sie die Neugier, und probierte sie? Hat sie es ganz ausgetrunken? Letzteres ist anzunehmen, denn man fand das leere Glas in ihrem Zimmer.
    In der Nacht, so um zwei Uhr morgens, weckte mich ein Stöhnen. Das Haus ist nämlich nicht groß. Ich stand auf und ging zu meiner Tochter, die ebenfalls aufgestanden war.«
    »Ich dachte, Sie lebten allein mit Ihrem Dienstmädchen?«
    »Am Sonntag war der 3. September, und ich hatte Geburtstag. Meine Tochter war aus Paris gekommen und blieb über Nacht.
    Ich will Sie nicht länger hinhalten, Herr Kommissar. Als wir an Roses Bett kamen, lag sie schon im Sterben. Meine Tochter benachrichtigte Dr. Jolly, doch als er kam, war Rose schon unter den für eine Vergiftung typischen Krämpfen gestorben. Der Arzt stellte sofort fest, dass sie mit Arsen vergiftet worden war. Da sie nicht zu den Mädchen gehörte, die Selbstmord begehen, und sie genau dasselbe wie wir gegessen hatte, liegt es eigentlich auf der Hand, dass das Gift sich in dem Medikament befand, das für mich bestimmt war.«
    »Haben Sie einen Verdacht, wer ein Interesse an Ihrem Tod haben könnte?«
    »Wen soll ich verdächtigen? Dr. Jolly, ein alter Freund des Hauses, der früher auch meinen Mann behandelte, rief die Polizei in Le Havre an, und Montag früh kam dann ein Inspektor.«
    »Wissen Sie, wie er heißt?«
    »Inspektor Castaing. Dunkle Haare, rotes Gesicht.«
    »Ich kenne ihn. Was sagt er dazu?«
    »Er sagt gar nichts. Er fragt die Leute in der Gegend aus. Die Leiche wurde nach Le Havre zur Autopsie gebracht.«
    Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Maigret nahm den Hörer ab. Der Direktor des Palais de Justice war am Apparat.
    »Könnten Sie einen Augenblick in mein Büro kommen, Maigret?«
    »Sofort?«
    »Wenn’s geht.«
    Er entschuldigte sich bei der alten Dame. Der Chef erwarte ihn.
    »Würde es Sie reizen, einige Tage am Meer zu verbringen?«
    Worauf Maigret wie von ungefähr sagte:
    »In Etretat?«
    »Sie wissen schon Bescheid?«
    »Ich weiß nicht. Reden Sie weiter.«
    »Ich habe soeben einen Anruf vom Minister erhalten. Kennen Sie einen Charles Besson?«
    »Auch einer von den Juva- Cremes?«
    »Nicht ganz. Es handelt sich um seinen Sohn, Charles
    Besson; er wohnt in Fécamp und wurde vor zwei Jahren zum Abgeordneten des Departements Seine-Inférieure gewählt.«
    »Und seine Mutter lebt in Etretat?«
    »Sie ist nicht seine Mutter, sondern seine Stiefmutter. Sie ist die zweite Frau seines Vaters. Floren Sie, alles, was ich Ihnen hier erzähle, habe ich eben erst am Telefon erfahren. Charles Besson hat sich nämlich an den Minister gewandt, um durchzusetzen, dass Sie sich mit einem Fall in Etretat befassen, obwohl dieser gar nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt.«
    »Die
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