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Maigret und die alte Dame

Maigret und die alte Dame

Titel: Maigret und die alte Dame
Autoren: Georges Simenon
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Gegenteil häufiger vorkommt, als man denkt. Er fühlte sich sicher geschmeichelt, als Theo in die bessere Gesellschaft aufgenommen wurde, von der er nur zu träumen gewagt hatte. Andererseits war er sich wohl klar darüber, dass Theo nicht gerade eine markante Persönlichkeit war und seine hochfliegenden Pläne den Bankrott beschleunigt haben. Was Charles angeht, so hat er ihm nie verziehen, zu nachgiebig zu sein, denn er hegte selber eine ungeheure Abneigung gegen alle Weichen und Schwachen.«
    »Weil er eigentlich selber so war, ist es das, was Sie sagen wollen?«
    »Ja. Jedenfalls waren die letzten Lebensjahre, in denen er sein Vermögen mehr und mehr dahinschwinden sah, recht deprimierend für ihn. Vielleicht liebte er mich wirklich. Er war kein sehr mitteilsamer Mensch, ich kann mich nicht erinnern, dass er einmal >chérie< zu mir gesagt hat. Er wollte meinen Lebensunterhalt gesichert sehen und mietete dieses Haus auf Lebenszeit und sicherte mir eine kleine Rente vor seinem Tod. Das ist ungefähr alles, was er hinterlassen hat. Seine Kinder erbten nur einige wertlose Erinnerungsstücke, ebenso meine Tochter, mit der er keine Ausnahme machte.«
    »Ist er hier gestorben?«
    »Nein. Er starb ganz allein in einem Pariser Hotelzimmer; er war dorthin gefahren in der Hoffnung, ein neues Geschäft abzuschließen. Er war siebzig Jahre alt. Allmählich lernen Sie die Familie kennen. Ich weiß eigentlich nicht so recht, was Theo treibt, aber er fährt immerhin ein kleines Auto, ist gut angezogen und lebt in eleganten Orten. Charles mit seinen vier Kindern und einer nicht sehr sympathischen Frau hat sich in mehreren Berufen ohne Erfolg versucht. Er hatte die fixe Idee, eine neue Zeitung zu machen. Dies ging in Rouen und Le Havre daneben. Dann engagierte er sich in Fécamp im Handel mit Düngemitteln, die aus Fischrückständen gewonnen wurden. Als dieses Geschäft sich ganz gut anließ, schrieb er sich auf irgendeiner Liste für die Wahl ein. Es war der reinste Zufall, dass er gewählt wurde, und nun ist er seit zwei Jahren Abgeordneter. Sie sind beide keine Musterknaben, aber sie sind auch keine Bösewichte. Wenn sie mich auch nicht abgöttisch lieben, so glaube ich doch, dass sie mich auch nicht hassen und mein Tod keinem nützen würde.
    Die Nippsachen, die Sie hier sehen, würden bei einer Auktion keinen großen Erlös bringen, und das ist, zusammen mit den Imitationen meines früheren Schmucks, alles, was mir geblieben ist.
    Die Leute hier in der Gegend haben sich an mich alte Frau gewöhnt; für sie gehöre ich irgendwie mit zur Landschaft.
    Beinahe alle Bekannten aus meiner Jugendzeit sind gestorben. Einige Leute, wie die ältere der Schwestern Seuret, besuche ich von Zeit zu Zeit. Dass einer auf die Idee kommen könnte, mich zu vergiften, erscheint mir so unmöglich, so absurd, dass ich verlegen werde, wenn ich Sie hier sitzen sehe, und mich jetzt geradezu schäme, Sie in Paris aufgesucht zu haben. Sie haben mich bestimmt für eine verrückte Alte gehalten, geben Sie’s zu!«
    »Nein.«
    »Warum? Wieso haben Sie das alles ernst genommen?«
    »Die Rose ist tot!«
    »Das ist wahr.«
    Sie warf einen Blick durch das Fenster auf die im Hof herumstehenden Möbel und die Bettdecken, die über der Wäscheleine hingen.
    »Ist Ihr Gärtner heute hier?«
    »Nein. Gestern war sein Tag.«
    »Hat die Putzfrau die Möbel selber heruntergetragen?«
    »Wir haben sie auseinandergenommen und zusammen heruntertransportiert, bevor ich heute früh nach Yport fuhr.«
    Sie waren schwer, die Treppe eng und gewunden.
    »Ich kann mehr tragen, als es den Anschein hat, Monsieur Maigret. Ich wirke vielleicht zerbrechlich und bin auch nicht so kräftig gebaut. Doch war Rose trotz ihrer stämmigen Figur nicht kräftiger als ich.« Sie stand auf, um sein Glas nachzufüllen, und nahm selber einen Schluck von dem alten goldgelben Calvados, dessen Duft das ganze Zimmer erfüllte.
    Sie war überrascht von der Frage, die ihr Maigret dann stellte, der ganz ruhig dasaß und an seiner Pfeife zog.
    »Glauben Sie, dass Ihr Schwiegersohn - er heißt Julien Sudre, nicht wahr? - ein nachsichtiger Ehemann ist?«
    Sie lachte verwundert.
    »Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht.«
    »Haben Sie sich auch nie gefragt, ob Ihre Tochter einen oder mehrere Geliebte hat?«
    »Mein Gott, es würde mich nicht weiter wundern.«
    »Ein Mann war hier bei Ihrer Tochter im Gästezimmer in der Nacht von Sonntag auf Montag.«
    Sie runzelte die Stirn und
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