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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau
Autoren: B Akunin
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»Ehrwürd’ger Greis mit grauen Haaren«. Oder war das nicht von Lermontow? Ach, egal.
    Der ehrwürdige Greis ließ den Blick langsam über die Anwesenden gleiten, und es war klar, daß diesen Augen nicht die kleinste Kleinigkeit entging und vielleicht nicht einmal der geheimste Gedanke. Der ruhige Blick verweilte nur einen winzigen Moment auf Colombinas Gesicht, und sie wankte plötzlich, erbebte am ganzen Körper.
    Sie merkte gar nicht, wie sie die Hand den Fingern des »Lehrers der schrecklichen Liebe« entriß und sie an die Brust preßte.
    Kriton flüsterte ihr spöttisch ins Ohr:
    »Noch etwas von Puschkin:
    Nicht nur der Wangen erster Flaum
    Und junge blonde Lockenmähnen,
    Des Alters Antlitz anzuschaun,
    Zerfurchte Stirn und Silbersträhnen,
    Erweckt die Phantasie voll Kraft
    Der gleichen Träume Leidenschaft.«
    »Sie meinen, das trifft auf Sie zu, das mit den ›jungen blonden Lockenmähnen‹?« fauchte das Fräulein beleidigt. »Und überhaupt, lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Puschkin!«
    |43| Sie ging demonstrativ beiseite und stellte sich neben Petja.
    »Das ist Prospero«, sagte dieser leise.
    »Ich dachte es mir.«
    Der Hausherr warf den Tuschelnden einen kurzen Blick zu, und sogleich herrschte absolute Stille.
    Der Doge streckte die Hand nach dem Kohlenbecken aus und gewann so Ähnlichkeit mit der Abbildung des Mucius Scaevola im Geschichtsbuch der vierten Klasse. Er holte tief Luft und sprach ein einziges Wort: »Dunkel.«
    Dann nahm er – die Anwesenden stöhnten auf – eine glühende Kohle in die Hand. Tatsächlich, Scaevola!
    »Gleich wird es heller«, sagte Prospero ruhig, trug das Glutklümpchen zu einem großen Kristallkandelaber und zündete nacheinander zwölf Kerzen an.
    Das Licht fiel auf einen runden Tisch, der mit einem dunklen Tuch bedeckt war. Die Finsternis zog sich in die Ecken des Salons zurück, und Colombina konnte endlich die »Liebhaber des Todes« in Augenschein nehmen; sie drehte den Kopf nach allen Seiten.
    »Wer trägt vor?« fragte der Hausherr und nahm auf einem Stuhl mit hoher geschnitzter Lehne Platz.
    Die übrigen Stühle rund um den Tisch, zwölf an der Zahl, waren schlichter und niedriger.
    Gleich mehrere Personen meldeten sich.
    »Die Löwin der Ekstase beginnt«, verkündete Prospero.
    Colombina starrte mit großen Augen die berühmte Loreley Rubinstein an. Die sah ganz anders aus, als man nach ihren Gedichten erwarten konnte: keine schlanke, zerbrechliche Lilie mit ruckhaften Bewegungen und riesengroßen schwarzen Augen, sondern eine ziemlich massive Dame in einem formlosen knöchellangen Gewand. Dem |44| Aussehen nach konnte man sie auf vierzig schätzen und auch das nur bei gedämpfter Beleuchtung.
    Sie räusperte sich mit tiefer kollernder Stimme und sagte:
    »›Die schwarze Rose‹. Letzte Nacht geschrieben.«
    Ihre vollen Wangen zuckten erregt, die Augen blickten zum Lüster, die Brauen hoben sich kummervoll.
    Colombina gab Luzifer einen Klaps, damit er sie nicht ablenkte, ihr nicht am Hals herumkrabbelte, dann war sie ganz Ohr.
    Die berühmte Poetin deklamierte wunderbar – leidenschaftlich, im Singsang.
    Tritt bald die Nacht verlockend in mein Sein?
    Wird ES geschehen oder nicht geschehen?
    Ersehnter Gast, wann kehrst du in mich ein?
    Willst lautlos in mich gehen.
     
    Mein Auserwählter, frei oder nicht frei,
    Er brennt und wird in hellem Lichte stehen,
    Die schwarze Rose in der Dunkelheit
    Bemerkt er gar nicht im Vorübergehen.
     
    Und ausgesprochen wird dereinst das WORT –
    Wirft alles Schweigen nieder.
    So soll es sein. Was nicht sein soll, geht fort,
    Geht fort und kehrt nicht wieder.
    Unglaublich – sie hörte ein neues, eben erst geschriebenes Gedicht von Loreley Rubinstein!
    Colombina applaudierte laut und hielt sogleich inne, da sie es als schweren
faux pas
erkannte. Beifall war hier wohl nicht üblich. Alle, auch Prospero, sahen das exaltierte Fräulein |45| schweigend an. Sie erstarrte mit den Händen in der Luft und errötete. Schon wieder hatte sie sich blamiert!
    Der Doge räusperte sich und sagte halblaut zu Loreley:
    »Dein üblicher Mangel: erlesen, doch unverständlich. Das mit der schwarzen Rose ist interessant. Was bedeutet sie für dich? Nein, sage nichts. Ich finde es selbst heraus.«
    Er schloß die Lider, ließ den Kopf auf die Brust sinken. Alle warteten mit angehaltenem Atem. Die Wangen der Dichterin waren hochrot.
    »Schreibt der Doge Gedichte?« fragte Colombina leise.
    Petja legte den Finger auf die Lippen, aber sie
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