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Magermilch

Magermilch

Titel: Magermilch
Autoren: Jutta Mehler
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Schulter dick verbunden; sein rechtes Bein hing in einem Dreißiggradwinkel zur Matratze ausgestreckt in einer Schlinge. Die Pose vermittelte die Illusion, er sei erstarrt, während er dazu angesetzt hatte, im Stechschritt zur Zimmerdecke zu marschieren.
    Fannis Kopf nagelte seine rechte Hand an die Bettdecke.
    Es war Dienstag, der 28. Juli, nachmittags vier Uhr.
    »Fanni«, sagte Sprudel mindestens zum fünfzigsten Mal. »Du trägst wirklich keine Schuld. Wie hättest du denn ahnen sollen …« Er schloss erschöpft die Augen, öffnete sie wieder und sah Marco flehentlich an.
    Der atmete hörbar ein, räusperte sich zweimal, dann begann er zu sprechen. Bei seinem Tonfall zuckten sowohl Fanni als auch Sprudel zusammen. »Gut, lassen wir gelten, was du dir vorwirfst, Fanni«, sagte er hart. »Du hättest dies sollen, du hättest das müssen. Hilft so eine Selbstanklage Sprudel dabei, schneller gesund zu werden? Drehen Selbstvorwürfe die Zeit zurück?«
    Da hat er aber mal ausgesprochen recht, der Junge! Höchste Eisenbahn, dein Hirn wieder die Regie übernehmen zu lassen, Fanni Rot!
    Fanni hob den Kopf und wischte Tränenbäche weg.
    In Sprudels Augen erschien ein dermaßen erleichtertes Lächeln, dass sie sich sofort wieder schuldig zu fühlen begann.
    Mit Recht! Da liegt er in diesem Krankenzimmer, mit Schrammen und Blessuren, mit einem Bruch und etlichen Prellungen. Doch Fanni Rot hat nichts Besseres zu tun, als ihm was vorzuheulen! Mea culpa, mea maxima culpa, ich hab’s verbockt, ich hab’s verpatzt, ich, ich, ich …!
    »Du hast uns Willis Mörder geliefert«, sagte Marco nun freundlich. »Wer weiß, was der noch angerichtet hätte, wärst du ihm nicht auf die Schliche gekommen.«
    Ich hätte Sprudel dabei fast umgebracht, dachte Fanni, wagte aber nicht, es noch mal laut zu sagen.

    Nachdem Marco tags zuvor mit Frankl und einem Pulk Polizeibeamter ins Hütterl gestürmt war und Fritz Maurer festgenommen hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis Fanni erkannte, dass sie nicht sterben würde, dass auch Sprudel lebte und dass Magermilch in Handschellen abgeführt worden war.
    Ein Krankenwagen kam den Wirtschaftsweg herauf, zwei Sanitäter holten Sprudel ab und beförderten ihn auf einer Trage zu der großen Föhre, wo der Sanka wartete. Marco hielt Fanni mit festem Griff zurück, bis sie außer Sicht waren.
    »Hör mir zu!«, sagte er dann eindringlich. »Zwei Beamte bringen dich und dein Auto jetzt nach Hause. Dort legst du dich ins Bett und nimmst eine Schlaftablette. Eine! Ich rufe Leni an, damit sie herkommt und sich um dich kümmert – oder möchtest du lieber stationär …?«
    Fanni hatte den Kopf geschüttelt. »Und bitte scheuch Leni nicht auf. Ich pack das schon. Wenn nur Sprudel …«
    »Er wird wieder wie neu«, versprach ihr Marco und bugsierte sie auf den Beifahrersitz ihres Wagens.
    Zu Hause hatte sich Fanni weder ins Bett gelegt noch hatte sie eine Tablette geschluckt. Sie war in ihren Lehnstuhl gesunken, und dort waren die Selbstvorwürfe aufmarschiert wie eine Termitenpopulation, und sie hatten begonnen, an Fanni zu fressen.
    Als Hans Rot nach Hause kam, täuschte Fanni eine Magenkolik vor und verzog sich ins Schlafzimmer. Später bekam sie mit, wie Marco anrief und, als Hans Rot abnahm, offenbar so tat, als wollte er Leni erreichen, denn sie hörte ihren Mann entsprechend antworten.
    Das nächste Mal rief Marco am folgenden Morgen an, als Hans bereits aus dem Haus war, und sagte ihr, dass sie Sprudel ab vierzehn Uhr besuchen könne.

    Am Nachmittag hatte Fanni Punkt zwei Uhr ihr Gesicht in Sprudels Handfläche gebettet.
    Inzwischen rückten die Zeiger der Wanduhr hinter Sprudels Bett auf halb fünf zu, und Fanni merkte, dass sich die Termiten, die seit gestern ihren Denkapparat verheerten, allmählich zurückzogen.
    »Ich fürchtete schon, Leni hätte dir gar nicht gesagt, dass ich mich mit Sprudel im Hütterl treffen wollte«, sagte sie zu Marco und bemerkte dabei erstaunt, dass Sprudel zu strahlen begann.
    Er ist überglücklich, dass seine Fanni wieder zu Verstand gekommen ist!
    »Sie hat es mir gesagt«, antwortete Marco. »Und wir beide dachten, da wärt ihr zwei gut aufgehoben.«
    Fanni sah ihn abwartend an, doch Marco schien plötzlich wieder in eines seiner Kommunikationslöcher gefallen zu sein.
    »Was hat dich aufgehalten?«, fragte sie.
    »Gisela«, antwortete Marco.
    »Gisela?«, kam es synchron von Fanni und Sprudel.
    Marco, der bisher am Fenster gestanden hatte, zog sich den
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