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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Autoren: Ulla Lachauer
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die meisten Orgeln kümmert sich bis heute niemand.
    Das Wichtigste an der Wende von 1989 war: Jetzt konnte ich endlich nach Auschwitz fahren, etwas, was ich schon lange, seit Marburger Zeiten eigentlich, vorhatte. Eine Art Wallfahrt, wie fromme Katholiken nach Rom fahren – «Was nützt mir Rom», habe ich zu Konrad gesagt, «erst muss ich dahin, wo ich hingehöre.» Er wollte nicht mit. Im Sommer 1993 schloss ich mich einer Gruppe an, drei Wochen Krakau, mit Abstecher zu den Konzentrationslagern. Etwa vierzig Grad Hitze hatten wir an dem Tag, der für Birkenau vorgesehen war. Hinter dem Eingangstor entfernte ich mich von den anderen. Eine Stunde brauchte ich ungefähr, um mit dem Monokular die Topographie zu erfassen, die grauen Baracken, den Schienenweg bis zu dem gesandeten Platz, wo die Selektionen stattgefunden haben. An den Rändern des Geländes war ein Streifen Ödland, dahinter erspähte ich reifende Felder, das normale Leben war also nah. Dann bin ich zum Stacheldraht und habe lange dort gesessen und an meine Mutter gedacht und an Fräulein Pfeiffer, die mich vor der Blindenschule bewahrt haben, an die Zitronenblatt-Fleißkärtchen, an Klaus. Und an die weinende Anita aus der Angell-Schule, wie wir nebeneinander vor Zimmer 8 gewartet haben. Wie hat sie ausgesehen? Blond, nicht sehr kräftig, schmaler als ich auf jeden Fall. Sie trug ein rotes Kleid, erinnerte ich mich, weitere Einzelheiten fielen mir nicht ein, nur dass wir gewettet haben: Ruft der Rex dich zuerst rein oder mich? Vielleicht hat man sie nach Birkenau gebracht.
    Ich befand mich in der Endphase des Sehens, nach der Polenreise ging es steil bergab. Im Alltag wurde es jetzt schwierig. Alles und jedes ertasten und erhorchen müssen, ohne optische Anhaltspunkte. Hausarbeit im Zeitlupentempo. Kleine Unfälle, die sich häuften. An einen erinnere mich besonders: Meine Hände fahren über den Schrank, ein wenig zu schnell – plumps, überall in der Küche verteilt schwarzer Kaffeesatz und gelbe Scherben. Es hat unsere kleine Melittakanne erwischt, ein Teil aus der Frühzeit unserer Ehe, an dem mein Herz hängt. Konrad liegt zwei Stunden auf den Knien, kehrt und wischt, verzieht sich dann brummelnd in den Garten.
    Eine Weile habe ich mich noch bemüht, es vor Außenstehenden zu verheimlichen. In der Fasnet, beim «Schissdreckzügle» in Freiburg, einem familiären Umzug, den wir nie ausgelassen haben, bin ich als Tanzbär gegangen. Ich brauchte jemanden, der mich führt, ohne dass die Freunde und Bekannten merkten, wie schlimm es um mich stand. Konrad, als Zirkusdirektor verkleidet, hielt mich fest an der Leine.

[zur Inhaltsübersicht]
    Das große ferne Blau
    Ein Mensch mit gesunden Augen kann sich kaum vorstellen, wie es ist, die letzten zwei Prozent Sehkraft zu verlieren. Wie gewaltig der Unterschied ist zwischen zwei Prozent und nichts oder fast nichts – eine dramatische Veränderung des Lebens, vergleichbar mit der Eroberung des Sehens als Kind, nur eben umgekehrt. Alles geht zurück, Schritt für Schritt, und jeder ist eine Etappe, ein Kampf gegen Tatsachen, ein Kampf mit den immer wieder aufkommenden Illusionen. Morgens bin ich aufgewacht mit dem Gedanken, ich schlage die Augen auf und sehe wieder das Braun der Kommode und den Umriss von Konrad, der den Kaffee ans Bett bringt.
    «Wird der Tag hell, Konrad?»
    Bei hellem Wetter sind die Chancen größer, noch ein Stück Welt zu sehen. Am ehesten kann ich das Lesen missen, man kann es ersetzen durch Hören. Konrad liest mir jeden Tag vor. Über die Marburger Blindenbibliothek kriege ich Hörbücher, so viel ich will, nicht immer genau das, was ich will, aber dann kommt eben statt Anton Tschechow ein anderer, Iwan Bunin oder Andrej Bitow.
    Schrecklich ist hingegen das Verschwinden der Farben. Nicht mehr malen zu können, nicht mehr mit Farben auf dem Papier herumtoben. An dem Tag, an dem ich meine Pinsel verschenkt habe, fühlte ich mich ganz und gar von Gott verlassen. Dass er mir meine liebste Beschäftigung genommen hat, habe ich Gott übelgenommen. Eine der ersten Farben, die sich verflüchtigten, kurz nach der Polenreise, ist das Lila gewesen. Sosehr ich es auch suchte, es war weg, das Lila in dem grellbunten Kleid aus Krakau, es fehlte, auch das dunkle, samtige Violett der Clematis, das dumpfe Lila des Rotkrauts, einfach nicht da, und sie kamen nicht wieder. Andere Farben blieben länger, zeigten sich bei gutem Licht hier und da, das Rot, das Grün, machten sich als große Fläche
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