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Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)

Titel: Magdalenas Blau: Das Leben einer blinden Gärtnerin (German Edition)
Autoren: Ulla Lachauer
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Großmütter in Anatolien. Das waren Kulturkonflikte, von denen wir bis dahin kaum eine Ahnung gehabt hatten. Auch mit den Eltern sprachen wir, da war unser Zweierteam besonders nützlich, denn an die Frauen wäre Konrad niemals herangekommen.
    Im Dorf und in der Kultusbürokratie machte man sich damit nicht unbedingt Freunde. Gegen teilweise heftigen Widerstand seiner Vorgesetzten verschaffte Konrad vielen fremden Kindern Sonderunterricht in Kleingruppen, notfalls mit List. War die vorgeschriebene Teilnehmerzahl dafür nicht erreicht, füllte er die Listen auf, indem er die zungenbrecherischen Namen nochmal in umgekehrter Reihenfolge eintrug, Nachname zuerst, Vorname dahinter, oder Mädchenvorname kombiniert mit Jungennachname. «Wenn ich Türken brauche, mach ich mir welche!», erzählte er mal einem entgeisterten Kollegen.
    So skeptisch wir gegenüber den Segnungen des Fortschritts waren, diese Veränderung mochten wir. Neue Leute! Ohne die immer neuen Schüler wären Konrad sein Beruf und die Sonnenmatter Dorfschule auf Dauer ziemlich langweilig geworden. Ich erinnere mich noch genau, wann es damit anfing, Frühling 1969. Beim Mittagessen erzählte Konrad, in der Schule habe ein Bub seine Ankündigung «Morn z’ morge isch schulfrei» nicht verstanden. «Was ist ‹mornsmorge›?» Da ist ihm schlagartig klargeworden, dass in der Klasse nicht mehr nur Alemannen sitzen. Zuerst Nicht-Alemannen, dann Türken und Griechen, dann Aussiedler aus der Sowjetunion, die wiederum sehr, sehr unterschiedlich waren. Schlag auf Schlag ging es, und wir mussten lernen. Jetzt hätten wir Galina als Dolmetscherin gebraucht. Wo liegt Karaganda? Kak tibja sawut? Diese Zuwanderung hat sich in gerade mal zwanzig Jahren vollzogen – zuletzt, 1989, erschienen in Sonnenmatt die DDR-Bürger.
    Bereits Monate vor dem Mauerfall hatten wir einige Familien mit Kindern im Dorf, die über Ungarn geflohen waren. «DDRler» schimpfte man sie, auf dem Schulhof gab es mal Zoff, weil sie aus Spenden schönes Spielzeug bekommen hatten und die Hiesigen nicht.
    Am Abend des 9. November habe ich am Rausch der Menge nicht teilgenommen, die sensationellen Fernsehbilder fehlten mir nicht. Aus dem, was ich hörte, schien mir, dass die Gefühle der Menschen zu sehr zur Schau gestellt werden. Vor allem war ich erleichtert, sehr erleichtert. «Kein Krieg», dachte ich, wie gut, das alles geht ohne Krieg. Diesmal hätte ich wirklich nicht gewusst, wohin ich rennen sollte. Während ich im Radio die Nachrichten verfolgte, erinnerte ich mich plötzlich an das Rascheln im Erbsenbeet, im Sommer. An dieses ganz, ganz leise Tappen, das vorsichtige Zupfen – ich saß am Steintisch und hatte mein Hörbuch «Die Reise nach Sachalin» beendet, war noch in Gedanken halb bei Tschechow, meine Ohren stellten sich gerade wieder auf die Geräusche des Gartens ein. Und in dem Lärm der Grillen, dem geschäftigen, flinken Rascheln der Amseln im Erbsenbeet hörte ich ein menschliches Rascheln. Ein Kind?
    «Warum fragst du nicht, wenn du Erbsen willst?»
    «Wir hatten zu Hause auch Erbsen», hat eine Jungenstimme in sächsischem Dialekt gesagt.
    Ronny hieß der kleine Dieb, einer von Konrads Schülern aus der zweiten Klasse. Jetzt verlieren viele Millionen Leute ihre Heimat, dachte ich am Abend des Mauerfalls, und so war es dann ja auch.
    Über Lukas konnte ich ein wenig an der Entdeckung des Ostens teilnehmen. Kaum waren die Grenzen offen, fuhr er mit den Orgelfreunden nach Moskau und Saratow, im Dom von Riga waren sie. Von überall schickte er Hörbriefe. «Blindensendung» schrieb er auf den Umschlag, in der jeweiligen Sprache erfragte er das Wort, warf sie in den Kasten, im Vertrauen, dass sie kostenfrei befördert würden – sie kamen tatsächlich an. Er berichtete von Gotteshäusern, die in kommunistischer Zeit Museen geworden waren, Garagen oder Getreidesilos. Abenteuerreisen, die er bei aller Unbequemlichkeit sehr genoss. «Guten Morgen, Magdalena», sprach er in einer Dorfkirche in Tschechien auf Band, «stell dir vor, wir haben im Schrank der Sakristei ein Kollektenbuch aus dem Jahr 1938 gefunden, und die Kollekte dazu.» Allein in Tschechien gebe es Hunderte von alten, wertvollen Orgeln, die dringend instand gesetzt werden müssten, und «wieder gespielt werden. Magdalena, die muss man doch spielen!» Es reizte ihn, dabei mitzumachen, mit seiner reichen Erfahrung wäre er ein guter Berater für die Restaurierungen gewesen. Aber diese Länder hatten andere Sorgen, um
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