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Maerchen Fuer Kinder

Titel: Maerchen Fuer Kinder
Autoren: Hans Christian Andersen
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und blickte nach allen Seiten; aber der alte Mann war fort, und ihr kleines Kind war fort, er hatte es mitgenommen, und dort in der Ecke schnurrte die alte Uhr, das große Bleigewicht schnurrte und fiel gerade bis auf den Fußboden, bum! und da stand auch die Uhr still.
    Aber die arme Mutter lief aus dem Hause und rief nach ihrem Kinde.
    Draußen, mitten im Schnee, saß eine Frau, in langen, schwarzen Kleidern, die sagte: »Der Tod ist in Deinem Zimmer gewesen, ich sah ihn mit Deinem kleinen Kinde davon eilen, er geht schneller als der Wind, er bringt nie wieder, was er nahm!«
    »Sage mir nur, welchen Weg er eingeschlagen hat!« sagte die Mutter, »zeige mir den Weg an und ich werde ihn finden!«
    »Den kenne ich,« sagte die Frau in schwarzen Kleidern, »aber ehe ich ihn Dir sage, mußt Du mir erst alle die Lieder vorsingen, die Du Deinem Kinde vorgesungen hast! Ich liebe sie, ich habe sie früher gehört, ich bin die Nacht, ich sah Deine Thränen, während Du sangst.«
    »Ich will sie alle, alle singen!« sagte die Mutter, »aber halte mich nicht auf, damit ich ihn erreichen, damit ich mein Kind finden kann!«
    Aber die Nacht saß stumm und still, da rang die Mutter die Hände, sang und weinte, und es waren viele Lieder, aber noch mehr Thränen; und dann sagte die Nacht: »Gehe rechts in den dunklen Tannenwald, dahin sah ich den Tod den Weg mit Deinem kleinen Kinde nehmen.«
    Tief in dem Walde kreuzten sich die Wege und sie wußte nicht mehr, wohin sie gehen sollte. Da stand ein Dornbusch, es waren weder Blätter noch Blumen an demselben, es war ja auch in der kalten Winterzeit, und es lag Schnee und Eis auf seinen Zweigen.
    »Hast Du nicht den Tod mit meinem kleinen Kinde vorbeigehen sehen?«
    »Ja!« sagte der Dornbusch, »aber ich sage Dir nicht, welchen Weg er genommen, wenn Du mich nicht erst an Deinem Herzen erwärmen willst; ich erfriere, ich werde ganz und gar zu Eis!«
    Und sie drückte den Dornbusch an ihre Brust, recht fest, damit er recht erwärmt werden könnte, und die Dornen gingen in ihr Fleisch hinein und ihr Blut floß in großen Tropfen, aber der Dornbusch trieb frische, grüne Blätter, und bekam Blumen in der kalten Winternacht, so warm war es an dem Herzen der betrübten Mutter, und der Dornbusch bezeichnete ihr den Weg, den sie einschlagen sollte.
    Da kam sie an einen großen See, wo sie weder ein Schiff noch ein Boot fand. Der See war noch nicht fest genug gefroren, um sie tragen zu können, und auch nicht offen und flach genug, sodaß sie ihn hätte durchwaten können, und über denselben mußte sie hinüber, wenn sie ihr Kind finden wollte. Da legte sie sich nieder, um den See auszutrinken, aber das ist für einen Menschen unmöglich; die betrübte Mutter dachte jedoch, daß vielleicht ein Wunder geschehen werde. –
    »Nein, das geht nicht!« sagte der See, »laß uns lieber sehen, ob wir uns einigen können. Ich liebe es, Perlen zu sammeln, und Deine Augen sind die beiden klarsten, die ich je erblickt habe, willst Du sie in mich ausweinen, so will ich Dich nach dem großen Treibhause hinüber tragen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume pflegt, jeder von diesen ist ein Menschenleben!«
    »O, was gebe ich nicht, um zu meinem Kinde zu kommen!« sagte die betrübte Mutter, und sie weinte noch mehr, und ihre Augen sanken auf den Grund des Sees und wurden zwei köstliche Perlen. Aber der See erhob sie, als ob sie in einer Schaukel säße und sie flog in einer Schwingung an das jenseitige Ufer, wo ein meilenbreites Haus stand. Man wußte nicht recht, ob es ein Berg mit Wald und Höhlen, oder ob es gezimmert war, aber die arme Mutter konnte es nicht sehen, sie hatte ja ihre Augen ausgeweint.
    »Wo werde ich den Tod finden, der mit meinem kleinen Kinde davongegangen ist?« fragte sie.
    »Hier ist er noch nicht angekommen,« sagte die alte Grabfrau, welche auf das große Treibhaus des Todes acht haben mußte. »Wie hast Du Dich hierher finden können und wer hat Dir geholfen?«
    »Der liebe Gott hat mir geholfen!« sagte sie, »er ist barmherzig und das wirst Du auch sein! Wo kann ich mein kleines Kind finden?«
    »Ja, ich kenne es nicht,« sagte die Frau, »und Du kannst ja nicht sehen! – Viele Blumen und Bäume sind über Nacht verdorrt, der Tod wird bald kommen und sie umpflanzen! Du weißt wohl, daß jeder Mensch seinen Lebensbaum oder seine Blume hat, je nachdem ein jeder beschaffen ist; sie sehen wie andere Gewächse aus, aber sie haben Herzschlag; des Kindes Herz kann auch schlagen!
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