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Maedchenauge

Maedchenauge

Titel: Maedchenauge
Autoren: Christian David
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Ihre Beine gaben nach.
    Plötzlich begriff Magdalena Karner, warum sie sterben sollte. Und sie versuchte, die Wahrheit in die Welt hinauszubrüllen, um alle wissen zu lassen, was da einst gewesen und was nun war. Dass sie an jenen dunkelsten Punkt ihres Lebens zurückkatapultiert worden war, den sie für immer hinter sich gewähnt hatte.
    *
    Die Männer taxierten die schlanke blonde Frau. Sie starrten sie an, verfolgten sie mit Blicken. Ganz unverhohlen, frech und aufdringlich.
    Bei ihrer Ankunft am Flughafen Wien trug Lily Horn einen faltigen grauen Kapuzensweater, dazu schmutzigblaue Jeans und fleckige Sneakers, die vor Jahren einmal froschgrün gewesen sein mussten. Ihre Augen waren klein vor Erschöpfung, das Gesicht und die Lippen wirkten blass, geradezu farblos. Die knapp schulterlangen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Schwanz gebunden, der eigenwillig vom Kopf abstand. Keine oberflächlichen Effekte erregten das Interesse der gaffenden Männer, sondern die fließenden Bewegungen der jungen Frau, ihr federnder Gang, der selbstbewusst gereckte Hals, die entschlossene und abweisende Miene.
    Am Rooseveltplatz, im neunten Bezirk, stieg Lily Horn aus dem Taxi. Ihr fiel auf, dass der Medikamentencocktail seine Wirkung noch nicht ganz eingebüßt hatte. Gehen konnte sie problemlos, auch die Fähigkeit, klar zu denken, war ihr nicht abhandengekommen. Aber ihre Emotionen befanden sich unter einer dichten, dämmenden Schicht. Sie empfand nahezu nichts, nur Ruhe und Gelassenheit. Angst oder Anspannung schienen nicht zu existieren.
    Niemals hätte Lily die Reise ohne die Medikamente überstanden. Eine befreundete Ärztin, die selbst unter heftiger Flugangst litt, hatte ihr vor einigen Jahren das Rezept für den Cocktail aus diversen Psychopharmaka gegeben. In ihrer Kindheit hatte Lily das Fliegen noch als mondänes, erregendes Abenteuer empfunden. Mit dem Einsetzen der Pubertät war sie von einem Gefühl ohnmächtigen Ausgeliefertseins erfasst worden, sobald die massiv einsetzende Schubkraft der beim Start aufheulenden Triebwerke die Passagiere in die Sitze presste. Nun, fünfzehn Jahre später und mit fast dreißig, genügte bereits der Gedanke an eine bevorstehende Reise mit einem Flugzeug und dessen enge, ausweglose Kabine, um Lily unruhig werden zu lassen.
    Mit der emotionalen Betäubung konnte Lily leben. Zumal in diesem Moment, als sie vor dem großbürgerlichen, aus dem späten 19. Jahrhundert stammenden Wohnhaus mit seiner eleganten Stuckfassade stand. Sie mochte sich nicht ausmalen, was sie in komplett klarem und nüchternem Zustand gefühlt hätte.
    Vor sechs Monaten und voller Hoffnungen hatte sie von hier aus die Reise nach New York angetreten. Beruflich hatte sich der Aufenthalt als Gewinn entpuppt, er hatte ihr einen Einblick in die Methoden der New Yorker Staatsanwälte verschafft. In privater Hinsicht war sie gescheitert. Weder einen Neuanfang noch ein Auseinandergehen in Freundschaft hatte sie bewerkstelligen können. Der Bruch und die nachfolgende Entfremdung hatten sich als unüberbrückbar erwiesen.
    Vermutlich hätte sie sich nun als Verliererin gefühlt. Mehr noch als doppelt Gescheiterte. Ihr ursprüngliches Ziel war gewesen, nie mehr nach Wien zurückzukehren, allenfalls zu einem Besuch bei Freunden und für ein paar nostalgische Momente. Aber sie befand sich wieder hier und fast nichts hatte sich geändert. Was eine gute Basis für Enttäuschung, Einsamkeit und Verzweiflung gewesen wäre.
    Nur verspürte Lily nichts dergleichen. Bereits die Ankunft am Flughafen hatte sie unberührt gelassen. Lediglich die warmen Temperaturen vor der Ankunftshalle hatte Lily mit einem Anflug von Erstaunen zur Kenntnis genommen und sich eilig ins klimatisierte Taxi geflüchtet.
    Gelangweilt hatte sie während der halbstündigen Fahrt in die Stadtmitte vom Taxi aus das Riesenrad im Prater und den strahlend hell beleuchteten Turm des Stephansdoms registriert. Und als der Wagen angehalten hatte, war nicht der kleinste Hauch von Wiedersehensfreude in Lily aufgekommen.
    Dabei war dies der einzige Ort auf der Welt, den sie als ihr Zuhause bezeichnet hätte. Am Rooseveltplatz war sie aufgewachsen, war vom Kind zur Jugendlichen und später zur jungen Erwachsenen gereift. Hier hatte sie zwischen den Sphären des Tags und der Nacht zu unterscheiden gelernt und begriffen, diese nicht zu vermischen oder gar zu verwechseln. Der Rooseveltplatz hatte sie gelehrt, dass es im Leben zwar ein gut sichtbares Grundgerüst gab,
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