Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maedchenauge

Maedchenauge

Titel: Maedchenauge
Autoren: Christian David
Vom Netzwerk:
darüber hinaus jedoch immer noch eine andere, unbekannte, zur Entdeckung einladende Seite. Und keine dieser Seiten durfte auftrumpfen, denn sie bedingten einander. So war der Rooseveltplatz gebaut, der zu drei Vierteln von zutiefst bourgeoisen, zugleich niemals auftrumpfenden oder übertrieben pompösen Gebäuden des späten 19. Jahrhunderts gebildet wurde. Die vierte Seite jedoch war offen, sodass der Platz ausflutete in das Grün des Sigmund-Freud-Parks, aus dem sich die filigrane neugotische Architektur der Votivkirche erhob, ohne im Geringsten bollwerkartig zu wirken.
    Für Lily war der Rooseveltplatz ein mit unzähligen Erinnerungen besetzter, geradezu magischer Ort, dessen Ästhetik die Phantasie eines Filmausstatters ersonnen haben könnte. Bei Tag erschien er seltsam verlassen und vernachlässigt, fast schon gemieden, was nur daran lag, dass hier kein Platz für Restaurants oder Geschäfte vorgesehen war. Des Nachts schließlich sank der Platz in einen tiefen Schlaf, um mit jenen, deren Sensibilität ausreichend entwickelt war, von all dem zu träumen, was sich hier zugetragen hatte.
    So erging es Lily, als sie sich umwandte und den Blick panoramaartig über den Rooseveltplatz und den angrenzenden Park schweifen ließ. Gleich den aufblitzenden Bildern eines rasant abgespulten Films zuckten Erinnerungsfetzen durch ihren Kopf. Da waren die verschämten Gespräche mit einstigen Verehrern, erste Küsse und Umarmungen unter Bäumen oder im Schutz dunkler Hauseingänge. Die Parkbank, auf der sie mit Freundinnen ihren ersten Joint geraucht hatte. Und lebhaft entsann sie sich einer gefährlich schwankenden nächtlichen Heimkehr, erschwert und himmlisch erleichtert zugleich von zu viel Rotwein. Fünfzehn war sie gewesen und sehr froh über die nächtliche Leblosigkeit dieses Platzes, von dem sie, barfuß und die drückenden Schuhe in der Hand haltend, empfangen worden war wie von einem verständnisvollen Vater, der seiner Tochter in peinlichen Augenblicken keine unnötigen Fragen zumuten wollte.
    Dem Taxifahrer spendierte Lily ein großzügiges Trinkgeld. Er transportierte die Koffer bis zum Hauseingang, stellte sie ab und streckte ihr unvermittelt eine mehrfach zusammengefaltete Zeitung entgegen.
    »Die hab ich schon gelesen«, sagte er mit einem undefinierbaren slawischen Akzent.
    Während der gesamten Fahrt war er schweigsam gewesen. Lily lächelte und nahm die Zeitung an sich. Der Fahrer lächelte zurück, wünschte ihr eine gute Nacht und setzte sich in seinen Wagen.
    Das vertraute Haustor schloss Lily auf, als der Taxilenker seinen Mercedes startete. Mit laufendem Motor blieb er stehen, bis sich das schwere Tor wieder geschlossen hatte.
    Sie betrat die schmale, mit dem Prunk einer untergegangenen Zeit ausgestattete Eingangshalle und schleppte das Gepäck über ein paar Stufen zum Aufzug. Zwei Minuten später und im dritten Stock des Hauses angelangt, öffnete sie die dunkelbraun lackierte Doppelflügeltür, die in die Wohnung führte.
    Jedes Stockwerk wies zwei solche Türen auf, es lebten nicht viele Menschen in diesem Haus. Gegenüber logierte ein höchstens zwanzigjähriger Student mit rabenschwarzem Haar, der Sohn der eigentlichen Wohnungsbesitzerin. Vor einem Jahr hatte Lily ihm geholfen, als er, lediglich mit weiß-blau gestreiften Boxershorts bekleidet und ziemlich bekifft, frühmorgens bei ihr angeläutet hatte. Treuherzig hatte er behauptet, unversehens und ohne Schlüssel im Treppenhaus aufgewacht zu sein. Zwei Tage später hatte ihr der Student einen großen Strauß roter Rosen vor die Tür gelegt und eine romantische, mit schwarzer Tinte gemalte Danksagung beigefügt. Lily hatte nicht darauf reagiert, erstens aus Zeitmangel und zweitens war er nicht ihr Typ. Was ihn seitdem nicht davon abhielt, sie betont verschmitzt zu grüßen.
    Nun war sie also in Wien und in ihrem Heim. Das war ihr Zuhause, ihre Zuflucht. Kein anderer Ort auf der Welt.
    Eine Viertelstunde später lag sie entspannt ausgestreckt auf dem alten Ledersofa im karg möblierten Wohnzimmer. Eine auf die niedrigste Stufe gedimmte Stehlampe spendete mildes Licht. Ihr Handy hatte Lily an die B&O-Anlage angeschlossen, Glory Box von Portishead schallte durch die gesamte Wohnung. Give me a reason to love you. Give me reason to be a woman.
    Lily hörte zu, empfand den Text als extrem passend und war überzeugt, dass nun andere, bessere Zeiten bevorstünden. Jemand sollte kommen, dem man solche Worte sagen konnte.
    Fast überfallsartig war Lily
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher