Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Autoren: Landolf Scherzer
Vom Netzwerk:
stieg von 2 Millionen im Jahr 1980 auf rund 150 Millionen im Jahr 2010. Auf den Baustellen arbeiten sie im Monat an 26 Tagen jeweils 10 bis 11 Stunden. Sie verdienen etwa die Hälfte des Lohnes eines normalen Arbeiters. 90 Prozent der Wanderarbeiter wollen, obwohl sie oft auf Baustellen oder in Firmenheimen »wohnen«, nicht mehr in ihre Dörfer zurückgehen. Sie sind ausgeschlossen von der sozialen Betreuung und den Bildungseinrichtungen der Städte, in denen sie arbeiten. Würden sie gleichberechtigt eingegliedert, müsste der chinesische Staat für jeden Wanderarbeiter fast 9000 Euro bezahlen; für alle 150 Millionen rund 1,3 Billionen Euro …

    Wanderarbeiter
    Ich hoffe, dass mir Madame Zhou von einzelnen Schicksalen der Wanderarbeiter erzählen kann.
    Als ich sie danach frage, holt sie aus der roten Umhängetasche einen dicken Aktenordner. In ihm sind bunte, oft dekorativ gestaltete Zeichnungen von Gegenständen abgeheftet: ein Jadestein, ein Tiger, ein Drache, das chinesische Staatswappen, der Himmel, die Sonne, ein schießender Soldat, eine Welle, ein Phönix, ein Panther, ein Liebesherz …
    »Zusammen mit dem Journalisten Liu She werde ich ein Buch über Wanderarbeiter herausgeben. Wenn es verboten wird, stellen wir es in einen Blog. Zwar sind Medien wie Twitter, Facebook oder YouTube in China gesperrt, aber bei chinesischen Anbietern wie Sina oder Tencent kommunizieren von den 400 Millionen Internetbenutzern in China inzwischen schon 200 Millionen miteinander. Also werden Millionen Menschen unsere Arbeit lesen.«
    Ich frage, weshalb ihr Buch über Wanderarbeiter mit Zeichnungen von Tigern, Soldaten, Wellen und Herzen illustriert wird.
    »In China gibt es zurzeit etwa 50 Millionen Kinder von Wanderarbeitern, die, von den Eltern unfreiwillig zurückgelassen,bei Großeltern, Verwandten oder ganz allein in den Dörfern leben müssen. Sie haben uns ihre Namen oder die Namen der Eltern, also Blume, Orchidee, Drache, Soldat, Woge usw. symbolisch aufgezeichnet und dazu ihre oder die Geschichte der Eltern aufgeschrieben. Mehr nicht. Und das wird ein Buch.«
    Ich blättere fast zwei Stunden in dem Aktenordner. Irina übersetzt, und Madame Zhou kocht erst grünen und danach weißen Tee.
    Weil ich nichts über den Inhalt weiß, tippe ich auf die mir verständlichen Zeichnungen. Das sind oft auch die farbenfrohesten.
    Einen das gesamte Blatt ausfüllenden goldschuppigen Drachen (Long) mit roten Krallen hat Peng Long gemalt.
    Der Junge ist 13 Jahre alt. Sein Vater hat ihn, weil die Mutter sehr früh starb, als 8-Jährigen mit auf die Wanderbaustellen von Peking genommen.
    »Wir hatten dort keine Unterkunft. Die Männer schliefen neben den Wänden, die sie am Tag gemauert hatten. Wir waren abends sehr müde, denn ich durfte schon Ziegel tragen. In der Nacht mussten wir, weil wir oft bestohlen worden sind, auf unseren Sachen schlafen. Sogar den Mantel des Vaters, den er immer als Decke über mich breitete, haben uns Diebe, andere Wanderarbeiter oder Bettler, weggenommen. Wenn wir zu einer neuen Baustelle zogen, trugen wir alles, was wir hatten, in einem großen Sack. Den huckte der Vater sich auf. Ich trug meine Sachen in einer kleinen Plastetüte. Später schliefen wir in Abrisshäusern, die von den Bewohnern schon geräumt waren. Es gab dort zwar kein Wasser und keinen Strom, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf, und einmal dauerte es fast ein Jahr, bevor die Bagger kamen.«
    Damals prügelte sich der kleine Drache Long oft mit Pekinger Kindern. »Sie beschimpften uns ›Migrantenkinder‹ als Diebe, Faulpelze und Drogenhändler und die Mädchen als Huren.«
    Long durfte als nicht in Peking gemeldetes Kind eines Wanderarbeiters keine staatliche Schule besuchen. Der Vater sparte drei Jahre lang jeden Yuan, damit der Sohn eine der 300 in Peking existierenden, von privaten und Wohltätigkeitsvereinen gegründeten »Schulen für Migranten« (also für Menschen, die aus der Provinz kamen) besuchen konnte. Allerdings nur zwei Jahre.
    »Dann wurde«, weiß Madame Zhou, »die Migrantenschule, in der viele Lehrer ohne Lohn unterrichtet hatten, geschlossen.« Long ging zurück in das Dorf. Dort lebt er allein in der inzwischen eingefallenen und vom Vater notdürftig reparierten Hütte.
    »Aber ich gehe jeden Tag zur Schule«, schreibt er am Schluss seines Berichtes.
    Auf einer anderen Zeichnung marschieren Soldaten mit roten Fahnen und präsentieren ihre Gewehre. Umrahmt ist das Bild von 10-Yuan-Scheinen. Madame Zhou deutet es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher