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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Autoren: Landolf Scherzer
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im Winter auf gemauerten, mit Kohlen geheizten Lagerstätten –versteckt hatte. Es waren Romane, unter anderem von Tolstoi, Puschkin und Dostojewski. Mein Ba-Ba versuchte, den jungen Leuten mit den roten Armbinden zu erklären, dass es russische Schriftsteller sind, die die Große Sozialistische Oktoberrevolution mit ihren Büchern vorbereiteten. Aber einer der Jungen, er hatte viel hellere Haare als die anderen, schlug meinem Vater ins Gesicht, spuckte ihn an und sagte: ›Du bist ein Lügner! Ich habe Literatur studieren müssen und weiß, dass Puschkin und Tolstoi Adelsknechte gewesen sind.‹
    Sie haben alle Bücher zusammengetragen und neben dem Denkmal von Mao Zedong, das auf einem Sockel aus den Steinen unseres Gebirges steht, verbrannt. Mein Ba-Ba durfte die Schule nicht mehr betreten und wurde zusammen mit dem Parteisekretär, bei dem die Roten Garden einen Sack mit nicht gemeldetem Reis gefunden hatten, aus dem Dorf gejagt. Man schlug sie mit Knüppeln. Die Frau des Parteisekretärs und meine Mutter stopften eiligst Hemden und Hosen und Kissen und Decken in Säcke. Sie gingen mit den Männern weg. Mein 15-jähriger Bruder Song, was ›Kiefer‹ heißt, und ich blieben zurück. Ich weinte. Aber die anderen Schüler klatschten, als die vier wie heute die Wanderarbeiter mit ihren Bündeln auf dem Rücken die Schlucht hinunterstolperten. Der Nachbarjunge hatte für den ›Sieg über die Konterrevolutionäre‹ mit meinem Bruder Raketen gebaut. Als er sie bei der ›Siegesfeier‹ anzündete, wollte ich meinen Bruder, weil die Großeltern so schrecklich schrien, zurückhalten. Aber es war zu spät. Die Rakete explodierte. Mein Bruder verlor nur einen Finger, ich die rechte Hand.«
    Hua blieb bei den Großeltern. Sie arbeitete nicht mehr im Steinbruch, sondern auf dem Feld. Die Schule wurde 5 Jahre geschlossen, und die Roten Garden lehrten die Kinder anhand der Reden von Mao Zedong lesen und schreiben.
    1978 durften die Eltern in ihr Dorf zurückkehren.
    »An diesem Tag war es sehr heiß. Doch der Ba-Ba wollteseinen Mantel nicht ablegen, so als hätte er immer noch Angst und müsste gleich wieder fliehen. Damals fotografierte mein Bruder die Eltern vor der Kiefer, die sie 1965 bei Songs Geburt gepflanzt hatten.«
    Zwei Jahre später, die Großeltern waren gestorben, fuhr Hua Zhou auf einem Armeelaster – ihr Freund musste zu den Soldaten – von den Bergen hinunter nach Peking.
    »Als das Tor seiner Kaserne sich geschlossen hatte, stand ich allein in der fremden Stadt. Mein Freund meldete sich nie wieder.«
    Zuerst arbeitete Hua Zhou in einer Fabrik, in der Kimonos genäht wurden. »Ich konnte den Stoff mit dem Stumpf der rechten Hand festhalten und mit der linken unter dem Nähnadelkopf entlangführen. Wir arbeiteten jeden Tag 12 Stunden. Nur am Sonntag durften wir die Maschinen schon am Mittag abstellen. Der Lohn reichte für die Miete im Wohnheim der Nähfabrik, wo ich mit 10 Mädchen in einem kleinen Zimmer schlief. Außerdem konnte ich mir am Tag zwei Schalen Reis kaufen.«
    Nach einem halben Jahr begann sie in einer Kartonagenfabrik zu arbeiten. Dort erhielt sie 80 Yuan mehr als in der Näherei, insgesamt 780 Yuan.
    »Dem Besitzer der Fabrik, einen Unternehmer aus Japan, war es aber zu teuer, Elektrokarren zu kaufen. Deshalb mussten wir Wanderarbeiter die zentnerschweren Kartonagestapel aus den Lagern zu den LKWs schleppen.
    Als mir ein Stapel den Fuß zertrümmerte, meine Mutter kam und mir Medizin aus den Bergen brachte und mich pflegte, wollte sie mich mit nach Hause nehmen. Aber ich erhielt in Peking eine andere, sehr gute Tätigkeit. Ich durfte als Ayi arbeiten. Erst bei einer großen chinesischen Familie und dann bei einer noch sehr jungen Engländerin. Ich hatte es gut bei ihr. Sie versuchte mir oft etwas zu erklären, obwohl ich es nicht verstehen konnte. Später, als ich schon bei dem Rechtsberater hierangestellt war, erhielt ich eine der Anweisungsbroschüren, aus denen die Engländerin mir immer etwas vorgelesen hatte.«
    Sie findet das Heft erst nach langem Suchen. Der Umschlag fehlt schon, aber die Seiten sind vollständig. Es sind »lehrreiche Anweisungen«, die eine englische mitreisende Ehefrau (Tai Tai) ihren Landsleuten für die »gute Arbeitsführung einer Ayi« erteilt. Danach soll man ihr beibringen (Irina übersetzt widerwillig): »Sich die Fingernägel sauberzumachen … in der Wohnung nur das anzufassen, was geputzt werden muss … kein Radio oder keinen Fernseher einzuschalten …
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