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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Autoren: Landolf Scherzer
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mir. Der Sohn Cai (Reichtum) schreibt über sich und seinen Vater Ai Jun (Der die Armee liebt). Solche patriotischen Namen wären schon vor der Kulturrevolution nicht selten gewesen, erklärt Irina und zählt auf: »Jiefang – Befreiung, Hong – Rot, Geming – Revolution, Jun – Soldat, Jianguo – Baut den Staat auf, Wu – Widersteht den Amerikanern.«
    Heute würden die Kinder außer den traditionellen chinesischen auch ausländische und aktuelle Vornamen erhalten. Ao Yun – Olympiade, She Bao – Soziale Sicherheit.
    Cai ist noch nicht reich geworden. Er stapelt Kisten im Pekinger Gemüsegroßmarkt. Sein Vater, der schon seit 1980 in Peking lebt und in 15 verschiedenen Fabriken gearbeitet hat, erhielt immer noch keine Hukou–Registrierung für Peking.
    »Aber Frau Zhou hat versprochen zu helfen, dass wir noch in diesem Jahr gleichberechtigte Einwohner werden. Der Vater ist seit langem Mitglied in dem Verband der Chinesischen Wanderarbeiter und hat schon viele Streiks organisiert. Obwohldas Recht auf Streik 1982 aus der Verfassung gestrichen wurde, scheren sich die Arbeiter in ihrer Not schon lange nicht mehr darum. Trotzdem bleibt ein Streik gefährlich, denn oft haben die Unternehmer gute Beziehungen zu den Chefs der Partei und der Behörden in den Provinzen. Und diese schicken dann Schlägertrupps und Streikbrecher. Vor allem, wenn die Arbeiter, um ihre ausstehenden Löhne zu erhalten, aus Protest hungern. Oder wenn sie androhen, vom Fabrikdach zu springen. Mein Vater, der sich in Peking von einem Bauern ohne Schulabschluss zum Elektriker entwickelte, war nach einem Streik schon verwundet wie nach einem Krieg. Aber die Arbeiter siegen immer öfter.«
    Cai berichtet in seinem Text auch von Kunstausstellungen, die Maler gemeinsam mit Wanderarbeitern gestaltet haben, von Wanderarbeitern, die Gedichte schreiben, von chinesischen Fernsehserien aus dem Leben der Wanderarbeiter. Und er endet mit: »Sie sagen: Wir gehören nirgendwohin! Aber wir leben. Wir Wanderarbeiter sind eine große Familie.«
    In ein rotes Herz, das die erste Seite ausfüllt, ist ein kleiner Junge mit Tusche hineingezeichnet.
    »Ich heiße Wang Lai Di. Doch der Wunsch meiner Eltern hat sich nicht erfüllt.«
    Irina erklärt mir, dass man den Vornamen »Lai Di« mit »Komm, kleiner Bruder« übersetzen könnte.
    »Weil es kein Junge geworden war, nannten die enttäuschten Eltern ihre Mädchen ›Komm, kleiner Bruder‹, denn nur Jungen waren und sind für die Familie eine Lebensgarantie. Sie bleiben in der Familie und können später für die Eltern sorgen. Mädchen heiraten und ziehen dann zur Familie des Mannes.«
    Wang Lai Di hat keinen Bruder bekommen. »Vielleicht weil mein Vater zwei Jahre im Gefängnis verbringen musste. Er hatte zuvor in den Kohlegruben bei Datong und in der Provinz Shaanxi unter Tage gearbeitet. Doch in diesen Grubenwar der Abbau von Steinkohle verboten. Die Behörden hatten die Gruben, weil die Sicherheitsbestimmungen nicht erfüllt waren und es dort tödliche Unfälle gab, schon vor Jahren geschlossen. Aber Unternehmer ließen Wanderarbeiter illegal in die Gruben einfahren, denn in China verdient man heute mit Kohle viel Geld. Nach einer Polizeikontrolle wurde mein Vater mit anderen Arbeitern unten in der Grube verhaftet.«
    Als die Mutter endlich ein zweites Kind erwartete, ließ sie sich von einem umherziehenden Sanitäter durch Ultraschall das Geschlecht des künftigen Kindes bestimmen. »Und weil es wieder ein Mädchen geworden wäre, ging sie zu einer Barfußärztin, die ihr das Kind wegmachte. Viele Frauen lassen heute, obwohl diese Untersuchungen mit Ultraschallgeräten streng verboten sind, die Mädchen abtreiben und bringen ihr Kind nur zur Welt, wenn es ein Junge wird.«
    Wang Lai Di schreibt optimistisch, dass sie in der Zeitung gelesen hat, dass es in einigen Jahren wegen der Abtreibung der Mädchen einen Überschuss von rund 30 Millionen chinesischen Männern geben wird. »Dann werden alle, die keine Frau abbekommen haben, um uns kämpfen müssen.«
    Die Eltern von Wang Lai Di arbeiten inzwischen beide in Peking. Der Vater als Tankwart und die Mutter als Verkäuferin. »Im nächsten Jahr, wenn ich 18 bin, werden sie mich holen.«
    Xing Feng hat auf das Deckblatt seines Textes das Puzzle eines Berges geklebt. Weil ich mich bei diesem Anblick an den Erzieher im Heim der »Mörderkinder« erinnere, der trotz des Namens Feng – Gipfel – von Statur sehr klein war, muss ich nicht nach der Bedeutung des
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