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Machtrausch

Machtrausch

Titel: Machtrausch
Autoren: Rainer C. Koppitz
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Gedanken an seinen pubertären Schuldirektor-Wunsch schmunzeln und leitete ein passendes Gesetz ab: Wer überdurchschnittlich talentiert ist und stets exzellente Arbeitsergebnisse abliefert, wird dennoch immer subalterner Sachbearbeiter bleiben, wenn ihm der entscheidende Faktor für den Aufstieg fehlte: der kompromisslose Wille zur Macht. Daran alleine erkannten sich die Alpha-Tiere der Wirtschaft. Er stand vom Frühstückstisch auf, küsste seine Frau auf die Stirn und versprach ihr, sie nach dem morgendlichen Nagelschneider-Termin, noch vor seinem Polizeibesuch, kurz anzurufen. Und selbstverständlich würde er nachmittags mit ihr gemeinsam Babette im Krankenhaus besuchen.

4
    Am späten Nachmittag desselben Tages zog sich Glock seine bequemsten Turnschuhe an, klemmte sich einen Regenschirm unter den Arm – am Himmel zeigten sich tiefgraue Gewitterwolken, die feuchtschwüle, drückende Luft ließ auf ein baldiges Unwetter schließen – und zog die Tür ihrer Wohnung hinter sich ins Schloss. Er war die Vortreppe vor dem Hauseingang bereits heruntergegangen, als er nochmals umkehrte und zweimal absperrte, obwohl Barbara daheim geblieben war. Oder gerade deswegen? Ihm wurde bewusst, dass sich etwas verändert hatte. Etwas Grundlegendes: Das Urgefühl der Sicherheit, der Geborgenheit war aus seinem Leben verschwunden. Und im Nachhinein betrachtet war es wahrscheinlich stets Illusion gewesen. Naivität, Selbsttäuschung. Glock hatte im Laufe des Tages drei Treffen gehabt, von denen ihm jedes einzelne ausreichend Gedankenfutter (›Food for Thought‹ hätte er es in der Firma genannt) mit auf den Weg gegeben hatte. Alle zusammen aber ließen sich nur verdauen, wenn er auf einem längeren Spaziergang durch die Münchner Innenstadt seinen Gedanken freien Raum lassen konnte. Und das hatte er jetzt vor. Das Angebot von Barbara, ihn zu begleiten, hatte er abgelehnt. Und so nahm sie jetzt alleine ein Bad und wartete, bis die dicken Regentropfen an das Fenster des Badezimmers prasselten.
    Anton Glock liebte das Viertel, in dem sie lebten. Haidhausen war ein sehr altes Stadtviertel, das, vor der Einverleibung durch München im Jahr 1854, ein eigenständiger, kleiner Ort gewesen war. Seinerzeit war Haidhausen vor den östlichen Toren Münchens auf der anderen Seite der Isar gelegen. An der alten Salzstraße, die weiter bis nach Wien führte. Damals im Mittelalter hatte es, in unmittelbarer Nachbarschaft der bis heute erhaltenen alten Kirche, einen Hof gegeben, in dem die Fuhrleute und Händler übernachten und essen konnten. An dieser Stelle in der Kirchenstraße, ehemals ›Straße nach Wien‹, stand heute ein schlichtes Jugendstilhaus, in dem sich eines der zahlreichen guten Lokale Haidhausens befand: die griechische Taverne Paros, die Barbara ob der schmackhaften Vorspeisen sehr schätzte und in der sie schon manche politische Diskussion geführt hatten. Als Teil von München war Haidhausen ein Arbeiterviertel gewesen, wo in kleinen Häuschen mehrere Tagelöhner in winzigen Zimmern hausten. Einige dieser kleinen Häuschen gab es noch heute. Sie standen längst unter Denkmalschutz und wurden von der Stadt bevorzugt an lokale Handwerker als Wohnhaus und Werkstätte vermietet. In München, wo etliche High-Tech-Firmen ihren Sitz haben, konnten viele Angestellte ein solches Haus aus Privatbesitz ergattern. Barbara und er hatten sich nach der Hochzeit ebenfalls um eines bemüht, waren ob des astronomischen Preises jedoch zurückgeschreckt. Haidhausen war längst ein In-Viertel geworden, aber eines, in dem es sich noch gut leben ließ. Alles war eine Nummer kleiner als im Schickimicki-Viertel Schwabing: Die Straßen weniger breit, es gab viele kleine Schmuckläden, Ateliers, Änderungsschneidereien und Unmengen von Kneipen, die alle irgendwie überlebten. Und die Häuser, zumeist alte Bausubstanz von der vorletzten Jahrhundertwende, waren nicht besonders hoch und sahen eher bescheiden und kleinbürgerlich in die Straßen mit den französischen Namen hinab, die ihre Bezeichnungen allesamt zu Ehren der bayerischen Beteiligung am siegreichen deutsch-französischen Krieg 1870/71 trugen: Metzstraße, Sedanstraße, Orleansstraße, Elsässerstraße, Gravelottestraße. Viele gewonnene Schlachten. Hier war zwar eindeutig Großstadt, und doch war es irgendwie heimelig.
    Auch Glock war natürlich nicht entgangen, dass sich Haidhausen dem allgemeinen Zerfall und Abstieg Deutschlands nicht vollkommen entziehen konnte: Es gab deutlich
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