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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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Er schüttelte den Kopf. Dann rollte der Zug an und er war verschwunden.
    Philip schaute dem Triebwagen hinterher. Die Rücklichter verschwanden im Schneetreiben. Das rote Leuchten wurde schwächer. Ebenso die Anzeige über dem rückwärtigen Führerstand: S9. Flughafen Schönefeld.
    Es dauerte einige Sekunden, bis die Information in sein Gehirn sickerte. Er wird doch nicht etwa… ? Der Wind trug den süßlichen Duft von Rosenwasser in seine Nase. Hieß es nicht, Dschihadisten parfümierten sich vor dem Einzug in das Paradies mit Rosenwasser? Bittere Galle drängte sich die Kehle empor. Röchelnd schnappte er nach Luft. Nur widerstrebend beruhigte sich sein Magen.
    Er rappelte sich empor, schüttelte den Schnee von seiner Kleidung, drohte dabei erneut auf dem vereisten Bahnsteig auszurutschen. Bloß nicht hinfallen. Nur mit Mühe hielt er sich aufrecht. Keine Zeit vergeuden. Er eilte zur halb offenen Telefonzelle, die am Ende des Bahnsteiges stand. Der Wind ging hier noch stärker, aber er schenkte dem Sturm keine Beachtung, auch nicht dem Schmerz in seinen kalten Fingern, an denen noch der Schnee vom Sturz haftete.
    Er griff in seine Hosentasche, zerrte die letzte der beiden Euro-Münzen aus der Zukunft hervor, die er seit Tagen bei sich trug. Aus der anderen Hosentasche klaubte er eine Visitenkarte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Hoffentlich hatte der Sturm nicht die Leitungen gekappt.
    Er steckte das Geldstück in den Schlitz und wählte. Nichts geschah. Verdammt!
    Das Schneegestöber wurde noch dichter, der Wind heulte auf, ein hämisches Schluchzen. Er klemmte den Hörer unter die Strickmütze an sein Ohr. Noch immer nichts. Er wollte den Hörer gerade zurück auf die Gabel schmeißen, als das Freizeichen ertönte. Kurz darauf meldete sich die blecherne Stimme eines Anrufbeantworters.
    »Verflixt!«, rief Philip. Doch was hatte er erwartet? Dass Kommissar Berger zu dieser nachtschlafenden Zeit am Telefon saß und nur darauf wartete, dass er anrief? Philip gab ein Lachen von sich.
    Ein Piepsen erklang. Philips Stimme überschlug sich: »Kommissar Berger? Hier ist Philip Hader. Es ist jetzt…« Sein Blick flog umher, bis er die Bahnhofsuhr entdeckte. Sie war zu weit entfernt. Er kniff die Augenlider zusammen, versuchte durch den Sturm hindurch etwas zu erkennen. »Es ist kurz nach halb sieben… Ich bin auf dem Weg zum Flughafen… Schönefeld… Etwas Schlimmes wird passieren. Bitte kommen Sie. Ich brauche Ihre Hilfe. Beeilen Sie sich. Bitte!«
    Er legte den Hörer zurück auf die Gabel. Unter seinen Füßen spürte er das Dröhnen, mit dem die nächste Bahn ihr Kommen ankündigte. Er wandte sich zurück zur Bahnsteigmitte. Jemand versperrte ihm den Weg. »Was ist mit Ihnen los?«
     
     
    Rom
     
    Was ist los?
    Die Frage wollte Bischof Ricardo de Gussa nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er fuhr sich durchs Haar. Dass er es dabei zerzauste, war ihm egal. Es war schon eine ganze Weile her, dass er sein Haar zum letzten Mal gekämmt und gegelt hatte. Das war nur eines der Opfer, die er erbrachte, weil er dem Offizium vorstand. Immerhin, auf den Gängen im Vatikan würden die Kritiker an seiner Person verstummen. Endlich verhielt er sich seinem Alter entsprechend.
    Was ist los?
    Die Frage hatte sich wie eine Zecke an ihn geheftet, bohrte sich immer tiefer in seinen Schädel. Hatte er die letzten Tage etwas übersehen? Nein, im Gegenteil, beruhigte er sich. Er hatte Vorgänge entdeckt, an die keiner seiner Freunde – er eingeschlossen – bisher einen Gedanken verschwendet hatte. Es gab mehr Personen als nur Philip Hader, auf die sie ihr Augenmerk richten mussten, um an ihr Ziel zu gelangen. Vielleicht hatten sie all die Jahre sogar ihre Suche auf eine völlig falsche Person konzentriert, auf die alte Frau in Berlin. Ja, de Gussa war sich sicher – auch wenn seine Freunde es anders sehen mochten –, dass jene junge Frau in London der Schlüssel zu allem war.
    Oder verrannte er sich in eine fixe Idee?
    Er saß seit Stunden in seinem Sessel hinter dem Schreibtisch, brütete vor sich hin, ohne dass er bisher zu einem nennenswerten Ergebnis gelangt war. Er hatte sogar die gestrige Abendmesse mit dem Papst versäumt, stattdessen die Zeit in der Grotte unter dem Vatikan verbracht, in der Hoffnung, der alte Mann auf der Bahre würde ein weiteres Mal erwachen, seine Worte wiederholen oder sogar noch einige hinzufügen, damit er sicher sein konnte, auf der richtigen Spur zu sein.
    Die Geschichte wiederholt sich
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