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Mach's falsch, und du machst es richtig

Mach's falsch, und du machst es richtig

Titel: Mach's falsch, und du machst es richtig
Autoren: Christian Ankowitsch
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Hintertüre offenhalten bzw. komplexen Angelegenheiten die Schwere nehmen, dementieren Sie einfach, was Sie gerade tun. Das klingt zum Beispiel so wie in dieser E-Mail, die ich von einer Freundin erhalten habe: «Hallo Christian, ich werde nicht nachfragen, ob sich die Herrschaften vom Verlag was gedacht haben zu meinem Manuskript, das haben wir so vereinbart. Also tue ich das auch nicht. Wie geht’s denn sonst so? Alles Liebe H.» Meine Antwort lautete: «Liebe H., danke der Nachfrage, es geht – sehr unter Druck wegen des eigenen Buchs, für das ich schon diverse Fristverlängerungen erwirkt habe. Weil Du ja nicht nachfragst, was aus Deinem Manuskript geworden ist, kann ich Dir auch nicht schreiben, daß ich eben nochmals nachgehakt habe und mailen würde, sobald der Verlag sich gemeldet hat. Aber, wie gesagt – Du fragst ja nicht! Das Beste aus Hamburg (wo ich eben sitze), Christian.»
    Einem schüchternen Paar wiederum ermöglichte es diese Strategie, nach monatelangen Annäherungsversuchen endlich konkret zu werden. Den Ausschlag gab ein Anruf des einen beim anderen: «Wollen wir uns heute abend bei mir sehen?» fragte der eine. Und weil er überzogene Erwartungen vermeiden und auch nichts versprechen wollte, fügte er noch hinzu: «Es gibt auch garantiert nichts Besonderes zu essen. Und Sex machen wir sowieso keinen!» Als dann der andere kam, wartete ein liebevoll zubereitetes Abendessen auf ihn. Und anschließend kam dann, was so lange schon hatte kommen müssen – nach übereinstimmenden Berichten der beiden wurde es eine wunderbare Nacht, wohl auch, weil sie vom gelegentlich wiederholten Satz «Nein, wir machen heute keinen Sex» begleitet wurde. Aus dem Abend entstand übrigens eine langjährige Beziehung.
    Die Psychologie nennt diese Strategie, etwas zu tun und gleichzeitig zu behaupten, man tue es
nicht
, «Dissoziation», also «Trennung einer Verbindung». Wer solcherart vorgeht, löst sich von seiner Verstrickung in eine aktuelle Situation und betrachtet sie aus einer gewissen Distanz – inklusive der eigenen Person. Indem wir sagen, wir würden nicht tun, was wir eben tun, stellen wir uns außerhalb des Systems, zumindest mit einem halben Fuß. Und das erleben wir durchaus als befreiend, vor allem, wenn uns die konkrete Situation belastet oder sonstwie auf die Nerven fällt. Wir können uns dieses Tricks übrigens in fast allen Lebenslagen bedienen. Ein Artikel der
New York Times
[232] etwa beschreibt sehr anschaulich, wie Spitzensportler damit ihre Leistung steigern. Ihre Wirksamkeit verdanke die Dissoziation dem Einfluß, den unsere Haltung auf unseren Körper haben kann: Während Marathonläufer durch den Gedanken an die noch vor ihnen liegende Strecke an Kraft verlieren würden, steige ihre Leistungsfähigkeit, wenn sie an anderes denken. Zum Beispiel: «I’m Not Really Running, I’m Not Really Running …» – wie der Titel des Artikels. Wir gewinnen also an Souveränität und Kraft, wenn wir nicht völlig in einer Situation aufgehen, sondern uns ein wenig von ihr entfernen, um uns selber zuzusehen. Das Problem an der Dissoziation: In bestimmten Situationen kann diese Strategie uns zwar helfen, den Überblick zu behalten. Aber wenn wir die gesamte Zeit neben uns stehen, beispielsweise beim Sex, dann wird das mit der Leidenschaft nicht klappen. Die braucht nämlich Hingabe. Und Hingabe bedeutet, ganz im Moment aufzugehen – das gerade Gegenteil von Trennung. Aber mit der Dissoziation ist es wie mit allen anderen Strategien auch: eine jede zu ihrer Zeit und in ihrem Kontext.
    Die wohl radikalste Variante der Dissoziation stellte der Widerstand vor allem jüdischer KZ -Häftlinge dar, der nicht zuletzt darin bestand, Witze über die eigene hoffnungslose Situation zu machen. Dazu schreibt der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici [233] : «Zweifellos wurden in den KZs Witze erzählt. Im Lager Theresienstadt und in den Ghettos gab es Kabaretts mit sarkastischen Liedern. Berühmt etwa das Theater im Ghetto Wilna, in dem meine Mutter war. Zunächst wurde gegen die Gründung eines Theaters heftig protestiert. Auf dem Friedhof wurde dem Judenältesten Jakob Gens entgegengehalten, man habe kein Theater zu spielen. Aber dann entwickelte sich das Theater zu einem Ort der Selbstbehauptung.»
    Angesichts der drohenden Ermordung noch die Kraft zu finden, sich vom eigenen Schicksal zu distanzieren, ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar. Und eine Leistung, die es den Opfern
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